TEXTE
Jedes Prosastück, das Sie hier lesen können, ist ein Schritt ins Unbekannte. Heraus aus dem bewohnten Gewohnten, für ein paar Tage, Wochen, Monate oder auch open-end...
Von jedem Stück ist der Anfang wiedergegeben und wenn Sie weiterlesen wollen, können Sie weiterlesen.
Samuel T. (geschrieben 2019-2020)
Ein junger toter Flüchtling holt eine Aussteigerin in ihren „alten“ Beruf als Juristin zurück, um Flüchtlinge im Asylverfahren zu beraten und zu begleiten.
Ich muss dir jetzt schreiben. Samuel T.
Am 8. November 2010 (das Datum hab ich mir aufgeschrieben!) hab ich im Fernsehen einen Beitrag über dich gesehen. Am nächsten Tag hab ich gegoogelt und einen Presse-Artikel ausgedruckt. Knapp mehr als eine halbe Seite. Diesen Artikel hab ich in eine Klarsichthülle gesteckt. Nicht in eine billige dünne Milchhaut mit Löchern für einen Ordner. In ein festes, glasklares Einzelstück. Ohne Löcher. Seither gibt es dich in meinem Leben.
Ein paar Tage später bin ich nach Wien gefahren und zum Manz am Kohlmarkt gegangen. Das ist eine Buchhandlung. Eine Fachbuchhandlung. Man bekommt nur juristische Bücher dort. Ob du weißt, was „juristisch“ ist, weiß ich nicht. Ist auch nicht wichtig. Jedenfalls hab ich mir drei Bücher gekauft. Eines mit 867 Seiten, Titel „Fremdenrecht“, eines mit (nur) 363 Seiten, Titel „Dublin II Verordnung“, und das dritte mit dem Titel „Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union“ hat 608 Seiten.
Ich hab mit dem dritten angefangen. Nach 200 Seiten hab ich eine Schublade leergeräumt. Eine ganz unten. Man muss sich auf den Boden knien, wenn man sie öffnen will. Außerdem klemmt sie. Wenn sie ganz zugemacht ist, hat man ein echtes Problem, sie aufzukriegen. In diese Schublade hab ich dich (also den Presse-Artikel in der Klarsichthülle) hineingelegt und die 1838 Seiten Papier auf dich draufgepackt. Dann hab ich die Schublade zugemacht. Ganz. Fest.
Aber es ist egal, wie tief ich dich unter Papier und Gesetzbüchern begrabe, du weiterlesen
Äquatortaufe
Auf einer Segelyacht über den Atlantik. Einblicke in den/die Alltag/nacht
einer dreiwöchigen Bodenlosigkeit.
"Siehst du den rötlichen Stern? Er ist der einzige, der rötlich leuchtet. Das ist der Mars. Auf den fahr zu. Fahr einfach auf ihn zu."
Es ist eine glasklare Nacht. Glitzernd zieht die dicke Sternensuppe vom Horizont herauf. Wie auf einem Förderband angeklebt wandert sie über die dunkle Haut des Himmels, die Venus auf halber Höhe, das Kreuz des Südens ist noch nicht über der Kimm, der Orion hat den Plafond schon erreicht und setzt zu einem Kopfsprung an, die Arme weit nach vorne gestreckt hechtet der Jäger mit der Wespentaille in Zeitlupe dem Morgengrauen entgegen. Und wo die Lichter aufhören, fängt das Wasser an, der schwarze Berg, den ich hinunterrase. Die Hände umklammern das Steuerrad, die Augen die 10-Mann-hohen Bäuche der Segel, die lichtlose Linie am Horizont und die beschlagene Kugel vor mir am Ruderstand, in der sich die Kompassrose in diffusem Rotlicht unbeherrscht hin- und herdreht. Jetzt wühlen sie verzweifelt im Lichtermeer. Wo einen rötlichen Stern hernehmen? weiterlesen
Götter und tote Babys
Der Versuch einem Tag (konkret sind es drei Tage) zuzuhören.
Paula hatte wieder einmal etwas getan, was man nicht tut und wie jedes Mal danach war sie dabei ihre Wohnung zu putzen. Drei Tage putzte sie schon, vielleicht auch fünf, das Zeitgefühl hatte sie ausgemistet, es war regelmäßig etwas vom Allerersten, das ihren Putzorgien zum Opfer fiel. Sie war mit dem Innenleben der Küche beschäftigt, konkret war es die Bestecklade, die sie herauszog und aus ihrer Verankerung nahm, als sie bemerkte, dass sie nicht allein war. Ein leeres Gefühl schlich um sie herum. Leicht. Weit. Bis in den Magen hinein kribbelte es. Jeder der 55 Quadratmeter, die laut Kaufvertrag und Grundbuch ihr Eigentum waren, roch nach Bahnhofshalle. Nur dass sie keine Ahnung hatte, wohin ihre Reise ging. Sie wusste nicht einmal, ob sie gerade beim Ankommen oder beim Abfahren war. Das Einzige, und das war wirklich alles, was sie wusste, war, dass sie zu etwas ja gesagt hatte, das weit über ihr Hirn und ihren Tellerrand hinausging. Sie kippte den Inhalt der Bestecklade vorsichtig auf den Tisch. Eine Gabel sprang trotzdem auf und davon. Vielleicht sollte sie doch lieber heulen, dachte sie, anstatt vor sich hinzusummen und suchte mit den Augen den Boden nach der Gabel ab. weiterlesen
Zwei T-Shirts für 700 km
Wie es ist, wenn einen der Jakobsweg in den Rucksack packt.
Dienstag, 28. Juli: 20:15 Uhr, 3sat, BRÜDER Teil III, Steinhauer und Co am Jakobsweg.
Mittwoch, 29. Juli: Ein Blick ins Internet. Der Jakobsweg ist/sind viele Wege. Ein Netz. Ein Labyrinth. Nein, ein Labyrinth nicht, alle Wege führen nach Santiago de Compostela. Trotzdem ein Labyrinth. Sogar in Spanien gibt es mindestens vier verschiedene Wege.
Donnerstag, 30. Juli: Einen Artikel im Weblogbuch schreiben. Mitten im
Schreiben plötzlich anfangen vom Jakobsweg zu schreiben. Dass man geht und geht
und geht, nichts tut außer gehen, nichts bekommt außer Blasen und am Abend eine
Matratze oder ein Stockbett, dass alles verschwindet mit Ausnahme der Blasen
(die immer mehr werden), die Sorgen, der Stress, die Begehrlichkeiten, dass man
leer wird und geht und geht und geht, Tage, Wochen, bei Regen und Sonnenschein
geht und irgendwann einfach nur mehr da ist wie die Luft, die man atmet ...
Wieder ein Blick ins Internet. Wieder verwirrend dieses Netz.
Am späten Nachmittag nach Wien fahren. Ein Buch suchen, das einen Überblick
gibt, etwas wie eine Bergspitze. Zwei Stunden in einer der größten
Buchhandlungen Wiens sitzen in einem Bücherberg. Ohne Buch und Bergspitze
wieder nach Hause fahren.
Freitag, 31. Juli: Wieder nach Wien. Diesmal Freytag und Berndt. Ein ganz kleines Buch. Überblick keiner, ein kleiner, handlicher, praktischer Reiseführer. Jemand in mir hat offenbar schon einen Durchblick. weiterlesen
Das Schneckenhaus
Der Ausstieg einer pragmatisierten Staatsdienerin. Das Loslassen einer
nahezu tödlichen Sicherheit. Wie fühlt sich das an in Zeiten wie diesen?
Am Anfang waren ein paar kryptische Zeilen im Tagebuch.
Ich stehe hier. Hinter mir der Magistrat. Vor mir – frei, alles frei. Und sonst? Was siehst du? Mich. Hier stehen. Frei. Frei? Vater. Hier bin ich.
Das war an einem Abend Ende Oktober, Anfang November 2004. Ich hatte mein kleines Büro im vierten Stock zugesperrt und den Schlüssel beim Portier abgegeben, so wie jeden Tag nach Dienstschluss, und marschierte Richtung U-Bahn, als ich es bemerkte. Ich blieb stehen und starrte auf das überdimensionale Werbeplakat, das vor dem Baugerüst am Hotel Intercontinental aufgespannt war. Irgendwo auf den paar hundert Metern zwischen dem hässlichen Bürohaus am Modenapark und dem Fleck, auf dem ich stand, war es passiert. Die pragmatisierte Staatsdienerin war tot.
Die nächste Eintragung liest sich wie Crème Brûlèe.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mein Leben in meine Hand genommen. Mein Leben in meiner Hand. Das spüren. Einen Augenblick. Den Augenblick, bevor es ihr wieder entgleitet ... Ist gewaltig.
Das muss er gewesen sein. Der Anfang. Dieser Augenblick. Das Nächste schon weit weniger pathetisch und immer noch ohne Datum. weiterlesen
Obdach. Los. Es
Die allerersten Eindrücke, Schocks, Aha-Erlebnisse, Gedanken, Fragen …
(die Artikel der ersten Monate aus dem Blog AUF DER STRASSE IST AUCH EIN WEG zu einem Prosastück verarbeitet)
Ort: Wien
Zeit: 2009
Namen: ausgetauscht
"Und dann fahren wir mit dem Dampfer auf der Donau und später gehen wir zum
Heurigen!"
Eine Wollmütze steht auf/in einem verwirrten, üppigen Gestrüpp, das Gestrüpp
steht auch im Gesicht, das Gesicht ist (jetzt) freundlich ("Er kann sehr
aggressiv werden!"), friedlich, die Augen lachen ziemlich, die Stimme
vollgepumpt mit Rotwein aus dem Tetrapack. Statur: nicht groß, dünn. Zwei
blaurote Hände fuchteln beim Reden. Dicker grauer Pullover, verfilzt,
Stehkragen, irgendwie muss man sich abgrenzen. Ich auch. Hinter einem
beigefarbenen drei-glatt-drei-verkehrt-Kragen stehe ich daneben, völlig. Meint
er das ernst mit dem Dampfer und dem Heurigen?
Seit einer halben Stunde stehe ich hier und daneben und im Regen, dabei ist es
strohtrocken und ausgesprochen warm, obwohl die Tür ins Stiegenhaus offen ist
("Damit uns die Leute, die uns suchen, gleich finden."), und es ist Feber und
der Feber ist heuer saukalt.
Zum Glück steht Albrecht (auch) neben mir. Er zündet sich eine Zigarette an.
Er zündet sich eine nach der anderen an ("Zuhause rauche ich den ganzen Tag
keine einzige."), dafür geht er in kurzen, gelben Ärmeln. Groß, weiße, wallende
Haare, weißer, wallender Bart, sehr freundlich. Er ist fast jeden Tag hier.
"Wie bist du auf uns gekommen?"
"Internet. Ehrenamtsbörse."
"Ah!", er lacht. "Du bist die erste, die sich über diese Schiene meldet. Sie
ist ganz neu. Ich hab uns erst vor zwei, drei Wochen hineingestellt."
"Dann bist du der eine und einzige Hauptamtliche? Im Internet steht, es gibt
nur einen hauptamtlichen Mitarbeiter."
"Nein. Bei uns ist sogar angeschissene Unterhosen auswechseln ein Ehrenamt.
Aber das Formular im Internet sieht den Punkt hauptamtlich zwingend vor, also
habe ich die kleinstmögliche Zahl hingeschrieben."
"Angeschissene Unterhosen?"
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