Tag 6 (20. Juni 2010)

Fünf vor neun. Die Reisetasche fix fertig am Bett, der Rucksack.

09:00 Uhr Kapelle. Fast leer. Ein Gefühl wie in den Straßen Wiens am Sonntag. Kein Fabian, kein Lucian, keine Stefanie, keiner der sonstigen Concordia-Mitarbeiter bis auf den immer und ewig andächtigen PC-Mann, kein Volontär. Emma, die junge Frau aus Deutschland, eine Hand voll „Kinder“ und ich. Heute ist Sonntag vom täglichen Sonntag. Florin sitzt hinter dem Altar (warum wer wo sitzt, habe ich in diesen wenigen Tagen nicht durchschaut), strahlt mich an, winkt, ich soll mich neben ihn setzen. Ich winke ab. Ich sitze nicht hinter dem Altar, ich sitze vorne, ich gehöre zum/ins Publikum. Die Andacht ist ungewohnt kurz. Nicht einmal Fürbitten. Plötzlich ist sie fertig, die wenigen Leute, die da sind, stehen wie üblich der Reihe nach auf, gehen hinaus. Florin bleibt sitzen, er „beatboxt“, Christi begleitet ihn auf der Gitarre. Es ist eine leise, vorsichtige Melodie, schön. Emma bedeutet mir im Vorbeigehen: „Für dich.“ Will mich der hübsche Junge einkochen oder ist er wirklich so umwerfend lieb?

Frühstück. Nur ein Tisch besetzt. Würstchen. Mein Abschied. Christi ist wieder mein Dolmetsch. Keine Hetze gegen Concordia, da ich den Text noch habe, hier ist er: Ich bin erst seit wenigen Tagen hier, aber ich habe euch und die jungen Leute im Laza in dieser kurzen Zeit sehr lieb gewonnen. Ich würde sehr gerne hier mitarbeiten, mich und meine Zeit völlig unentgeltlich zur Verfügung stellen, mit euch zusammenleben, von euch lernen (Gemurmle) und euch von mir mitgeben, was ich zu geben habe. Aber es gibt ein Problem. Ich passe nicht in das engmaschige (das Wort kann Christi nicht übersetzen, wir haben einen kurzen Knopf, dann machen wir ohne engmaschig weiter) Netz der Concordia-Regeln. Ich bin schon zu erwachsen um mir jeden Schritt, den ich tue, vorgeben und Schritte, die ich für sinnvoll und notwendig halte, verbieten zu lassen. Ich war, als die Entscheidung gefallen ist, sehr traurig und es tut mir auch jetzt weh von hier wegzugehen, aber ich hoffe, ich habe eine kleine Brücke gefunden, die mich mit euch hier verbinden wird. Ich kann nicht alle zu mir nach Wien einladen, dazu habe ich das Geld nicht, aber ich lade zwei von euch - Florin und Georgeta - ein, eine Woche zu mir zu kommen. Ich werde ihnen Wien zeigen, sie werden mir vielleicht ein kleines Stück von ihrer Welt zeigen. (wieder Gemurmle) Ich freue mich sehr darauf. Da die Einladung zu 100% auf meine Kosten geht, hoffe ich, dass Concordia zustimmen wird. Euch, die ich nicht einladen kann, habe ich trotzdem unheimlich gern und wünsche euch das Allerbeste. Zum Schluss noch eine Bitte und ich meine diese Bitte ernst: Nützt die Chance, die euch hier von Concordia geboten wird, es ist eine große Chance für jeden von euch.“ Einige sagen, dass sie das toll finden mit der Einladung. Neid sehe ich in keinem der Gesichter.

Florin voller Eifer. Er hat tatsächlich vor Lucian die sonntägliche Tür einzurennen, sieht sich mit Georgeta morgen schon im Flugzeug sitzen. Warum auch nicht. Logisch gedacht wäre nichts naheliegender: Concordia entstehen keine Kosten, Georgeta hat kommende Woche frei (und es ist nicht absehbar, wann sie die nächste freie Woche haben wird), Florin hat offenbar auch Zeit, eine Woche Wien ist eine Supersache, eine Gelegenheit, die man beim Schopf packen darf, kann, muss. Ein Idiot, wer das nicht tut. Wer weiß, wann die nächste kommt? Und wer, wie diese zwei jungen Leute, im unmittelbaren Nahbereich der „Straße“ lebt (sie schwebt immer im Raum, hier trägt sie den Namen „Gara de Nord“), denkt hundertmal mehr so, muss so denken, will er überleben, kann es sich gar nicht leisten Gelegenheiten nicht zu nützen. Florin denkt so. Handelt so. Ist auch gut so. Ich habe mir das gestern in der Stadt schon gedacht: Bei all seiner Musikbesessenheit – dieser junge Mann hat sein Leben fest im Griff und er gibt das Ruder nicht aus der Hand. So höflich, zuvorkommend, liebenswert er ist, so haargenau weiß er, was er (nicht) will. Jetzt hat er Lucian am Telefon, drückt es mir in die Hand. Lucian sagt mir, was ich erwartet habe: Zu ihm in die Wohnung fahren hat überhaupt keinen Sinn, weil er das nicht entscheiden kann, das muss erst besprochen werden. Dann sagt er, was ich befürchtet habe: Fabian ist zuständig. Florin will natürlich sofort Fabian anrufen. Nein. Stop. Fabian jetzt unter Druck setzen zu wollen, wäre das Kontraproduktivste, was wir tun könnten. Ich werde morgen von Österreich aus ein Mail schreiben, wenn notwendig auch an Ruth Zenkert, Pater Sporschill. Florin ist tief enttäuscht. „Du willst nicht.“ Nein. Ich will nicht unsinnige Dinge tun. Und ich will mich jetzt von den Leuten im Laza verabschieden.

Ich marschiere ins Laza. Florin marschiert mit. Spätestens jetzt weiß ich, wie man sich als Beute fühlt (ist nicht bös gemeint …). Ich warne ihn, sage, dass ich im Laza mit vielen Leuten reden werde, ein paar Stunden dort sein werde, vielleicht auch dort essen werde, und es keine gute Idee ist, wenn er mich begleitet, weil ich Null Zeit für ihn haben werde. Zeit für ihn habe ich nachher, wenn wir gemeinsam zum Flughafen fahren (das haben wir gestern schon ausgemacht und auch mit Emma abgesprochen). Florin marschiert unbeeindruckt weiter, trötet sein Orchester, was das Zeug hält. Dann kann ich dir nicht helfen, kleiner Despot. 

Im Laza ist auch Sonntag. Eine Wochenend-Küchenchefin, die ausgezeichnet Deutsch spricht, zwei rumänische Wochenend-Educatoren (sprechen auch gut Deutsch), alle sehr freundlich. Vor der Tür und im Garten die übliche Menschentraube, eine halbe Stunde Fotoorgie, mir ist zum Heulen, mein Blick fällt auf Florin, er steht am Zaun, schaut mich an, schüttelt den Kopf „nicht weinen“, ich nicke, komme diesem Auftrag mit Müh und Not aber doch nach, gehe noch einmal durchs Haus, melde mich noch einmal zum Küchendienst, darf auch mit dem Küchenteam Fotos machen, schneide mit Moise halb gefrorene Brotberge in Stücke (seinem Bauch geht es schon viel besser), einer der Educatoren lädt mich ein mitzuessen „Dann können Sie sich von allen verabschieden.“, ich nehme die Einladung mit Freude an, nachher verabschiede ich mich, diesmal mit unaufgeschriebenen Worten, die aufgeschriebenen passen hier nicht, hier geht es viel einfacher zu, viel unmittelbarer, von der Hand in den Mund, vom Mund ins Ohr, vom Herz in die Arme, Stehgreif ist hier gefragt, nichts Vorgefasstes, Ausformuliertes, ich stottere wider Erwarten nicht, der Educator übersetzt, dann kommt das, was ich im Laza so mag und was mir im Juda fehlt: dieses ungehinderte Aufeinanderzugehen, Umarmen, von einem zum andern gereicht werden und bei den meisten ist die Umarmung ernst gemeint, die Zuneigung nicht höflich. Kann es sein, dass „Straßenmenschen“ weniger Mauern um sich herum haben? Dann ist es Zeit. Ich muss hier weg. Wo Florin ist? Nicht mehr da.

Im Juda ist es leer. Alle ausgeflogen. In den Parks. Wie komme ich jetzt zu Florin? Gar nicht. Er hat Christi angerufen und lässt mir ausrichten, er kommt am Nachmittag nicht mehr her. Schade. Habe ich ihn zuviel auf die Seite geschoben? Hätte ich das nicht, hätte er alles andere außer sich auf die Seite geschoben. Ich gebe Christi einen Zettel mit meinen Daten, bitte ihn sie an Florin und Georgeta weiterzugeben, finde Michael, den lieben Volontär aus Vorarlberg beim Nudelkochen, er erklärt mir, wie ich zum Flughafen komme, zeichnet es mir sogar auf. Ein letztes Foto. Ich glaube, Michael, du wirst ein hervorragender Behindertenbetreuer.

 

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Viel zu früh am Flughafen. Mein erster Kaffee seit Tagen. Ein Lavazza. Alles Gute für dich, Florin, und hoffentlich bis bald. Ich wollte dir nicht weh tun, dich nicht kränken.

Es tut saumäßig weh hier wegzugehen. Aber ich hätte mich umbringen müssen, hätte ich die Texte in der Kapelle singen, lesen wollen, das Programm herunterspulen, versuchen aus Straßenmenschen Hausmenschen zu machen. Ich weiß nicht, was hier passiert ist. Ich weiß nur, dass es höllisch weh tut. Und dass ich zu diesen Menschen gehöre. Einer von ihnen bin. In Mauern genauso wenig Platz habe wie sie.

Über den Wolken ist es auch um 23 Uhr nicht dunkel. Unter den Wolken ein Gewitter. Von Zeit zu Zeit blinken sie in den unterschiedlichsten Rottönen. Von Zeit zu Zeit Flugzeuge, die wie Kaulquappen in ihnen herumpaddeln. Schwarzbrot mit kaltem Schweinebraten und Kren.

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