Tag 5 (19. Juni 2010)

In der Früh ein Blick in den Spiegel und mich trifft fast der Schlag. Die Augen sind zwischen aufgeblasenen Daunenkissen verschwunden. Das Gefühl ist okay. Die Optik verheerend. Zum Glück bin ich Brillenträger. Du darfst auf deine alten Tage nicht mehr heulen, Frau, denke ich. Kaltes Wasser. Viel kaltes Wasser. Make-up. Puder. Heute brauche ich eine dicke Schutzschicht.

In der Kapelle (heute später, weil Wochenende) lacht mir Beatbox entgegen, deutet auf den Stuhl neben sich. Fürbitten. Ich verstehe nicht, was er sagt, ich höre nur das Wort „Martha“. Ich bitte heute um nichts. Ich sage Danke. Ein großes Danke ans Leben, dass es immer das für mich bereit hält, was ich gerade brauche, was für mich jetzt und hier wichtig ist, notwendig, auch wenn ich das im Moment oft nicht erkennen kann und mir das, was gerade passiert, manchmal ziemlich weh tut. Ich mache diese Erfahrung seit 54 Jahren und weiß daher, dass es auch jetzt so ist, dass ich mich auf das Leben verlassen kann. Dafür DANKE.

Beim Frühstück zieht mich Beatbox wieder auf den Stuhl neben sich. Ist Kavalier wie immer. Reicht mir das Brot, die Marmelade. Heute gibt es für jeden ein Ei, wir „pecken“. Ich nehme ihm sein zerdonnertes aus der Hand, gebe ihm mein unversehrtes. Wir lachen, plagen uns beim Abschälen. Er fragt, ob er mir heute Bukarest zeigen soll. Ich sage nein, heute geht es nicht, morgen, wenn er Zeit und Lust hat, gerne. Heute steht bei mir „die Farm“ am Programm. Nach dem Frühstück fahren wir. Fabian, eine künftige Volontärin, die gestern aus Deutschland angeflogen ist, und ich, hoffentlich immer noch. Ich bin ziemlich neugierig. Auch wenn ich nicht mitarbeiten werde, ich habe schon so viel von diesem Ort gehört.

Später Vormittag. Wir warten. Die junge Frau aus Deutschland und ich. Sitzen in den blauen Stühlen beim Eingang. Sie schließt im Sommer ihre Ausbildung als Erzieherin ab, spielt Violine, Gitarre, noch ein drittes Instrument, sie wird sicher ein Gewinn für Concordia sein. Gegen halb elf kommt Fabian bei der Tür herein, huscht in sein Büro. Kommt wieder heraus. „Frau Martha, kommen Sie bitte kurz zu mir. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“ Ich fahre also nicht auf die Farm, denke ich, gehe zu ihm ins Büro.

Die Worte weiß ich nicht mehr. Den Inhalt schon. Die Farm wird mir nicht gezeigt, weil das nicht notwendig ist, weil ich mich entschieden habe nicht mitzuarbeiten. Er hat das gestern am Abend noch mit ein paar Leuten besprochen und das Programm für heute umgestellt. Er wird auch mit der jungen Frau aus Deutschland nicht auf die Farm fahren, er wird mit ihr in irgendeine Casa fahren, dort soll sie den Tag verbringen und Eindrücke sammeln. Er schließt seinen Vortrag mit der seltsamen Frage, ob ich damit einverstanden bin. „Nein, ich bin nicht einverstanden!“ Als er mich, aus welchem Grund immer, wie ein Tonband zum dritten Mal fragt, ob ich einverstanden bin, brülle ich ihm das dritte „Nein, ich bin nicht einverstanden!“ ins Gesicht, verlasse das Zimmer und knalle die Tür zu.

Was habe ich erwartet? Concordia ist fertig mit mir. Ich funktioniere nicht. Also: Go!

Morgen (gehe ich). Heute noch nicht. Heute will ich mich noch verabschieden von Bukarest und seinen „Straßenkindern“, mich für ihre Gastfreundschaft bedanken und ihnen von ganzem Herzen alles Gute wünschen. Dieses Mindestmaß an Höflichkeit wird Fabian mir sicher zugestehen und entgegenbringen. Ich gehe noch einmal zu ihm ins Büro und frage ihn, ob er damit einverstanden ist, dass ich die Nacht von heute auf morgen noch hier verbringe, weil ich mich noch von einigen Leuten, auch im Laza, verabschieden will. „Natürlich kannst du bis morgen bleiben.“ Das ist meine letzte Begegnung mit Fabian Robu. Ruth Zenkert habe ich schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Da es seit gestern in der Früh nicht mehr heißt: „Psst! Psst! Ruth schläft!“, nehme ich an, sie ist abgereist.

Aufs Zimmer. Flugticket suchen. Mit zuhause telefonieren. Eine halbe Stunde später ist mein Flug umgebucht, ich fliege morgen um 22:20 Uhr. Das heißt, ich habe noch fast zwei Tage Zeit. Wo ist Beatbox? Vielleicht steht sein Angebot noch mir heute die Stadt zu zeigen. Am Abend muss ich mich dann mit Georgeta zusammensetzen und ihr sagen, dass aus unserem Ausflug am Montag nichts wird. Morgen in der Früh verabschiede ich mich von den jungen Leuten hier, am besten in der Kapelle oder beim Frühstück, da habe ich sie alle beisammen, dann gehe ich ein paar Stunden ins Laza und am Nachmittag hole ich mein Gepäck und: ab Richtung Österreich.

Beatbox muss ich nicht suchen. Wir rennen uns am Gang fast über den Haufen. Natürlich zeigt er mir die Stadt. Er muss nur noch schnell etwas essen. Ob ich mit ihm esse. Ich kann nicht nein und nicht ja sagen, er packt mich ein, wir gehen in die Küche im „Kindergeschoß“. Am Wochenende sind sie Selbstversorger („damit wir selbstständig werden“), klärt er mich auf. Kartoffeln, Eier, Weißbrot. Eine Viertelstunde später sitzen wir bei selbstgebastelten Pommes frites mit zerquirlten Eiern darüber, dazu Weißbrot. Schmeckt köstlich. Dann packt jeder seinen Rucksack und wir starten. „Was willst du sehen?“ „Was du mir zeigen willst.“

Was folgt, ist ein Nachmittag wie ein Segeltörn. Am Ruder Beatbox.

 

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Von hier nach da, nach dort, kreuz und quer mit dem Bus, der U-Bahn, zu Fuß, sogar mit einem Ruderboot sind wir unterwegs. (Da er wieder kein Pflaster am Finger hat, dauert dieser Ausflug allerdings nicht übermäßig lang und wir gehen anschließend eine Apotheke suchen.)

 

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Ich versuche gar nicht mir die Namen der Plätze, Straßen, Parks zu merken, die wir abklappern, sie (die Namen) interessieren mich auch nicht, wir nagen Maiskolben, lutschen Eis, vernichten jede Menge Kirschen, bevor wir die vielen Stufen zum Mausoleum hinaufsteigen, zieht Beatbox plötzlich zwei blitzblaue Flossen aus seinem Rucksack und köpfelt ins Wasser, sogar bei einer Taufe dürfen wir dabei sein.

 

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Und natürlich jede Menge Musik. Beatbox. Ich war noch nie mit einem Orchester unterwegs. Es macht Spaß, auch, die Gesichter der Leute zu beobachten, seines. Und als wir das letzte Stück mit dem Bus fahren, hat er einen Stöpsel im Ohr, ich einen und er klickt mich durch die Musik, die ihm gefällt. Drei Viertel davon gefällt mir auch. Vielen Dank, Florin!

Irgendwann an diesem Nachmittag, wir sitzen bei einer Autobusstation und warten, fragt er mich, ob ich irgendwann wieder nach Bukarest komme. Ich sage, nein. Bei Concordia werde ich nicht mitarbeiten und Urlaub werde ich hier keinen machen, könnte ich mir bei meiner schmalen Brieftasche auch nicht leisten. Er nickt. Drückt mir etwas in die Hand. Ich weiß heute noch nicht, was es ist. Ein Stück Holz an einem Faden. Wir sitzen weiter da, warten auf den Bus. Mir krabbeln die Tränen in die Augen. Um Gottes Willen, nicht heulen! Zum Glück kommt der Bus. Und ein Gedanke: Ich komme nicht nach Bukarest. Was, wenn Florin zu mir kommt? Und Georgeta? Ich könnte den beiden Wien zeigen. Florin könnte in Musik baden. Georgeta in der Stadt. Ich müsste natürlich die ganzen Kosten übernehmen. Eine Woche? Ich habe überhaupt kein Geld, aber …  

Auf dem Weg von der Busstation ins Juda kaufen wir in dem winzigen Laden Pfirsiche und Tomaten, Gurken, Jungzwiebel für eine Riesenschüssel Salat. Und was gibt’s dazu? Dreimal raten. Selbstgebastelte Pommes frites mit zerquirlten Eiern darüber, dazu Weißbrot. Und wir sind nicht die einzigen, die das essen. DAS Essen der jungen Leute am Wochenende (klärt mich Daniela später auf).

Zwischendurch läuft mir die junge Frau aus Deutschland über den Weg. Wo sie heute war, frage ich, und wie es ihr gefallen hat. „Wir waren auf der Farm. Hat mir gut gefallen. Ein kleines Mädchen hat mich gleich an der Hand genommen!“ Lügen tut er also auch. Fabian.

Nach dem Essen bittet Florin Emma (eine liebe, junge Frau, die an diesem Wochenende so etwas wie die Aufsicht hier überhat) die Kapelle noch einmal aufzusperren. Er sitzt und spielt. Werkt am Keyboard. Schaut nicht links und rechts. Ich sitze und höre. Irgendwann kommt ein junges Gesicht herein. Müde. „Wir können nicht schlafen. Es dröhnt so.“ Es wird gegen 23 Uhr sein. Georgeta müsste jetzt auch schon da sein.

Gerade gekommen. Nass bis unter die Haut sitzt sie auf einem der blauen Sessel am Gang neben ihrem Zimmer. Draußen schüttet es. Ich bitte Florin Christi (er studiert Deutsch) zu holen, er macht mir den Dolmetsch. Ich möchte, dass jeder der beiden meine Einladung von A bis Z versteht. Die zwei freuen sich riesig. Ihre Gesichter sind unheimlich schön. Sofort und gleich, spätestens morgen muss das mit Lucian und/oder Fabian ab- und festgemacht sein, Florin wird die Telefonnummern der beiden besorgen und zu Lucian gehen wir morgen in aller Früh nach Hause, „Er wohnt dort und dort … „ , „Aber morgen ist Sonntag, wir können ihm morgen nicht die Tür einrennen“,  und nächste Woche ist überhaupt ganz super, da habe ich frei, jubelt Georgeta … Sie strahlt wie ein Christbaum. Er lacht von einem Ohr zum andern. Ich schaue die beiden an, denke an Fabian. Sie werden nicht kommen dürfen. Nicht einmal, wenn ich zu 100% die Kosten übernehme.

Im Bett schreibe ich noch ein bisschen etwas zusammen für morgen in der Früh. Packe. Habe keine Ahnung, ob ich weinen oder lachen soll.

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