Eine Woche noch. Dann ist Schluss
mit rechtlichen Graubereichen, schwammigen Ermessensspielräumen, dunklen Kuschelecken, Schlupflöchern und verstaubten Formulierungen wie “Die Sozialhilfe hat jenen Menschen die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen, die dazu der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen.” Mit diesem Satz aus den 70er-Jahren beginnen vier der neun Sozialhilfegesetze in Österreich. Trotzdem gibt es neun verschiedene Gesetze, in jedem Bundesland ein anderes, neun verschiedene ‚menschenwürdig’ auf einer Fläche von 83.871 km2.
An den neun verschiedenen Gesetzen für ein und dasselbe wird sich auch mit der Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ab 1. September nichts ändern. Es kommt sogar noch eine zehnte Rechtsgrundlage dazu: ein Gliedstaatsvertrag zwischen Bund und Ländern, in dem diese zehn Vertragsparteien “auf Grundlage der bundesstaatlichen Struktur” übereinkommen bundesweit einheitliche Mindeststandards zur verstärkten Bekämpfung und Vermeidung von Armut und sozialer Ausschließung zu schaffen. Aber der diffuse Begriff ‚menschenwürdig’ wird in diesem 9+1 Regelwerk nicht mehr vorkommen.
Dafür wird es glasklar definierte Mindeststandards geben, neunmal die gleichen, weil bundesweit einheitlich. Sie sollen die Talsohle und werden vermutlich auch der Bergrücken sein, weil sie den einzelnen Ländern die Verpflichtung nehmen sich mit diesem merkwürdigen ‚menschenwürdig’ auseinanderzusetzen, weil sie das neue gerade-noch-aber-doch ‚menschenwürdig’ sind, sprich: Weniger bzw. niedrigere Leistungen dürfen die Länder zwar nicht mehr vorsehen, mehr bzw. höhere brauchen sie aber auch nicht vorzusehen. Sie können mehr ‚gewähren’, wenn sie wollen. Wenn sie nicht wollen, liegt das ‚menschenwürdig’ künftig bundesweit einheitlich glasklar unter der Armutsgefährdungsschwelle. Diese Schwelle liegt laut Sozialbericht 2007-2008 (das ist der dzt. aktuellste) bei rund 900 Euro, während sich die Höhe der Leistung aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung am Netto-Ausgleichszulagenrichtsatz in der Pensionsversicherung orientiert, der 2010 für eine alleinstehende Person 744 Euro pro Monat beträgt und von dem, so glaube ich, noch ein Betrag für die Krankenversicherung abgezogen wird.
Trotzdem. Gut möglich, dass nicht mehr mehr drinnen ist. Die wunderbare Brot- und Fischvermehrung liegt 2000 Jahre zurück und die Zahl der Menschen, die auf staatliche Hilfe zurückgreifen, ist am Explodieren …
Was mir viel weniger behagt: Waren die jetzigen Gesetze schmuddelige Zimmer, sind die künftigen sterile Operationsräume. Die Hilfe suchenden Personen (so der Terminus für die Anspruchsberechtigten im Entwurf “Wiener Mindestsicherungsgesetz - WMG”) werden entkleidet, mitsamt ihrem Umfeld (sprich: ihnen gegenüber unterhaltspflichtigen und – berechtigten Personen sowie mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebenden Ehegatten, eingetragenen Partnern, Lebensgefährten) von allen Seiten durchleuchtet und durchsichtig wie Quellwasser während des gesamten Bezugszeitraumes einer einzigen Behandlung zugeführt: Sie müssen funktionieren. Und wer sich in dem Netz aus Antrags-, Anzeige-, Vorlage-, Melde-, Mitteilungs-, Mitwirkungs-, Um/Schulungs- und Anspruchsverfolgungspflichten verheddert, den Fuß oder das Genick bricht, ist selber schuld, zu dumm, zu faul, zu wenig beweglich, integrationsbereit. Es ist ausschließlich das Problem der Hilfesuchenden, wenn sie in der verwinkelten Welt der Fristenläufe, Mängelbehebungsaufträge, unmöglichen Verzichte, möglichen ausdrücklichen und „gilt als“ Zurückziehungen trotz Belehrung durch die Behörde das Gleichgewicht und die Orientierung verlieren, weil ihnen diese Welt fremd ist wie der Regenwald, unheimlich, sie mehr ausschließt als eingliedert, an ihnen und ihren Problemen und Bedürfnissen vorbeigeht wie die Politik, die nicht einmal in Zeiten wie diesen bereit ist auf die Sandkistenspiele der 9+1 Gesetze für ein und dasselbe zu verzichten und die längst fällige Verfassungs- und Verwaltungsreform endlich anzugehen, für die es das Normalste vom Normalen ist, dass in einem kleinen Mitgliedsstaat der Europäischen Union von zehn aufgeblasenen Verwaltungsapparaten zehn Rechtsgrundlagen für ein und dasselbe produziert werden, in zehn Gesetzgebungsverfahren neun Landesregierungen, die Bundesregierung, neun Landtage, der Nationalrat, Bundesrat, dreimal so viele Ausschüsse, Unterausschüsse, Expertengruppen und wahrscheinlich mehrere hundert Interessensvertretungen befasst werden und die dann auch noch den Mut hat sich das Ergebnis dieser ungeheuren Energie- und Steuergeldvernichtung als „echten sozialpolitischen Fortschritt“ (kann man heute auf der Website des bmask lesen) auf die (jeweiligen) Fahnen zu schreiben.
Wirklich ein Meilenstein. Eine herausragende Leistung Österreichs im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.