“Er scheißt sich an, im wahrsten Sinn des Wortes”,

beantwortet Albrecht meinen entsetzten Blick auf die dunkelbraune Unterhose des Mannes, der eben noch bei uns am Tisch gesessen ist und jetzt auf eine Tür zusteuert, hinter der eines von acht Betten auf ihn wartet. Ein Gedanke, der wie ein Feuerwerk in meinem Magen explodiert: Ist er auf dem Stuhl, auf dem ich jetzt sitze, auch schon gesessen? Krätzen. Scheiße. Was sonst noch? Albrecht nickt.
“Ich wechsle seine Bettwäsche jeden Tag. Und er bekommt jeden Tag zweimal eine frische Unterhose von mir. Deshalb haben wir immer so wenig lange Unterhosen.”
Nein, zum Arzt geht er nicht. Natürlich nicht. Er geht nie zum Arzt.
“Einmal bestand der Verdacht auf offene Tuberkulose. Das war ein Zirkus! Ich habe ihm sogar Hausverbot angedroht. Nichts zu machen. Zwei Ehrenamtliche haben ihm angeboten ihn zur Untersuchung zu begleiten. Nichts. Beim ersten Versuch ist er davongerannt, beim zweiten ist er gar nicht erst am vereinbarten Treffpunkt erschienen. Der dritte Versuch war dann erfolgreich: Ich habe in der Früh vor dem Haus mit dem Auto gewartet, bis er bei der Tür herauskommt, habe ihn einfach eingepackt und bin mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Der Verdacht hat sich zum Glück nicht bestätigt. Aber das Seltsame ist noch nicht vorbei: Anstatt sich zu freuen, ist er dann drei Wochen lang nicht bei uns aufgetaucht!”

Die Stirn, die Nase aufgeschlagen, überall schwarzes, geronnenes Blut. So sind wir ins Reden gekommen. Ich habe ihn gefragt, wie das passiert ist. Hingefallen, Kreislauf, passiert immer wieder, hat er mir erzählt. Und dass er mit drei anderen auf die Donauinsel übersiedeln wird, wenn die Notschlafstelle zusperrt. Je zwei Personen in einem Zelt. Dann ist er aufgestanden, angeschissen. Wer ist der Zweite mit ihm im Zelt?

Was wird aus diesem Menschen, wenn kein Albrecht mehr da ist? Müsste man die Bestellung eines Sachwalters bei Gericht beantragen? Das wäre wahrscheinlich das Schlimmste, was man ihm antun könnte. Aber was ist mit uns? Er lässt uns biedere Bürgerlein einfach im Regen stehen mit unserem Recht und unserer Vorstellung von Ordnung und besteht darauf in seinem Dreck zu verfaulen.

Nachtrag vom 24.6.09: Dieser Mann kommt häufig vor in diesem Blog. Ich mag ihn sehr, auch wenn ich kaum Kontakt zu ihm hatte. Und da wir kaum Kontakt hatten, weiß ich seinen Namen nicht. Und wessen Namen ich nicht weiß, dessen Namen kann ich nicht gegen einen anderen austauschen. Und würde ich seinen austauschen müssen (weil können), würde mir das schwerfallen. Ich nenne ihn für mich ”der alte Mann”. Auf ihn beziehen sich die Einträge vom 24.3. “… auf den Wert dessen aufmerksam werden, was in uns schlummert …” , vom 29.3. Er hat es geschafft! , vom 20.4. “Ich gebe dem Staat nichts …” und vom 23.4. “Ihr hobt’s ma imma g’holfn” .

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