“Warum lügen Sie mich an?”

Graz. Stadtpark. Früher Vormittag.

Ich walke, er sitzt auf einer Bank und dreht sich eine Zigarette. Neben sich eine Plastikflasche mit einem finsteren, picksüß riechenden Zeug. “Da ist Wodka drin.” 60 Jahre. Seit 17 Jahren auf der Straße.

“Wo schlafen Sie?”
“Überall.”
“Warum gehen Sie nicht in eine der Vinzi-Einrichtungen?”
“Da sind die aus der Karlau. Glauben Sie, ich will mich umoperieren oder umbringen lassen?”
“Wovon leben Sie?”
“Mistkübel, Betteln.”
“Aber es gibt doch genügend Einrichtungen, wo man gratis essen kann.”
“Da geh ich nicht hin. Die wollen einen vergiften. Einmal war ich dort essen, dann hab ich Blut geschissen.”
Seine Tochter ist Richterin.
“Spricht kein Wort mit mir.”
Er habe hier an der Uni studiert.
“Ich bin kein Blöder.”
Viele Jahre im Ausland. Im Fernverkehr. In Wien war er auch. Hat ihm gefallen.
“Dann kennen Sie auch die Gruft.”
“Ja.”
“Sind ganz feine Leute dort, oder? Wollen einem helfen.”
“Nein. Wollen einen vergiften.”
“In der Gruft will Sie doch niemand vergiften!”
“In der Gruft nicht. Aber außerhalb.”

Überall will man ihn vergiften. Und überall sind “die Mafiaartigen”. Die Welt ist scheußlich. Das Leben trist. Er kämpft für Gerechtigkeit. Aber die Gerechtigkeit siegt nicht.

“Mit der Schnapsflasche auf der Parkbank wird das auch nicht gut gehen.”
“Sie lügen! Warum lügen Sie? Sie wollen der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen!”

Der Mann schaut nicht aus wie 60. Er schaut nicht einmal verbittert aus. Er schaut freundlich aus. Und er war auch freundlich, als er mich fragte, warum ich da mit den Stöcken durch die Gegend renne, ob ich glaube, dass dadurch irgendetwas besser wird. Und er war freundlich, als er mir sein Getränk anbot. Erst, als ich meinte, dass die Welt sooooooo scheußlich doch gar nicht sei, kam er in Bedrängnis.

Ich würde es nicht aushalten. Nichts zu tun. Nichts dafür und nichts dagegen. Einfach nur NICHTS. Von morgens bis in die Nacht hinein lallen, ständig Nebel im Hirn und Watte in den Knien, nicht hier sein und nicht dort. Ich würde in die Mur gehen. Ich würde weggehen weil ankommen wollen.

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