Der erste (Schnupper)Abend. Oder: Zu ebener Erde und darunter.

80 bis 90 Menschen, Betten, Matratzen, Decken, Polster, mindestens dreimal so viele vollgestopfte Plastiksäcke unter, zwischen, neben den Betten, die Betten, Menschen und Plastiksäcke aufgeteilt auf zwei Schlafräume im Keller, ein großer mit plusminus 40 Stockbetten für Männer, ein kleinerer mit plusminus 10 Betten für Frauen, im großen Raum zusätzlich Kästen mit Bettzeug, Handtüchern, neben den Kästen Bett- und Wolldecken- und Polsterstapel, die fensterlosen Wände schneeweiß, die Räume hell erleuchtet durch Spots am Plafond, unterhalb des Plafonds laufen dicke Lüftungsrohre, zwischen den zwei Schlafräumen Sanitärräume für die Männer, nur vom Frauenschlafraum aus zugänglich der Sanitärraum für die Frauen, zwei Feuerlöscher bei den Männern, einer bei den Frauen, hin und wieder ein Zettel mit einem aufgemalten Rauchverbot, zwei Stiegenhäuser, eines davon holzvertäfelt, beide Stiegen führen hinauf ins Erdgeschoß und zu den Notausgängen. “Hat das die Feuerpolizei gesehen und abgesegnet?” Antwort des (ehrenamtlichen) Hausleiters: “Das weiß ich nicht. Da müssen Sie unsere Architektin fragen.” Hier schlafen täglich immerhin zwischen 80 und 100 Menschen … Viele von ihnen rauchen und trinken … Wenn sich nur einer von ihnen in der Nacht im Bett eine Zigarette anzündet und einschläft … Er zuckt mit den Schultern. Das fällt offenbar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. 

Im Erdgeschoß des (ehemaligen Wirts)Hauses der große Gast- bzw. Aufenthaltsraum mit langen Holztischen und unheimlich vielen Stühlen, die Theke, jetzt hinter Glas und mit einer versperrbaren Tür, wird als Rezeption, Büro und Schlafraum für den Nachtdienst genutzt. Daneben eine Gastronomieküche mit abgrundtiefen Töpfen und riesigen Gasflammen (”Hier darf nur arbeiten, wer mit solchen Geräten umgehen kann.”), derzeit werden hier nur Brote gestrichen und das Wasser für den Tee gekocht, das soll sich aber so bald wie möglich ändern. Eine Waschmaschine. Der Trockner ist kaputt. Die nasse Wäsche wird vorläufig in den Schlafräumen im Keller aufgehängt. Drei Entfeuchtungsgeräte laufen rund um die Uhr.

Zwischen Rezeption und Keller huscht eine liebe, freundliche, sehr bemühte Frau hin und her bzw. auf und ab, die Ehrenamtliche, die heute den Abend- und Nachtdienst macht. In der Küche werkt Sebastian (der Name ist erfunden), ein Mann, der fast jeden Abend hier ist und die Küche überhat und zusätzlich so ziemlich alles, was anfällt und wofür gerade kein anderer verfügbar ist. Beide kommen aus Polen. Beide sind ausgesprochen sympathisch.

Alle Ehrenamtlichen, die seit der Eröffnung der Notschlafstelle Mitte September hier am Abend und in der Nacht “Dienst tun”, vollbringen Höchstleistungen. Abgesehen von Sebastian in der Küche ist meistens nur eine Person da für 80, 90 (bis 100) Gäste. Auch in der Nacht. Die meisten oder alle kommen aus Polen, sie arbeiten oder/und studieren in Wien und helfen durch ihr Engagement hier ihren Landsleuten, die nicht so gut Fuß fassen konnten wie sie. Fast alle sprechen gut deutsch, aber miteinander und mit den Gästen sprechen sie polnisch, manche auch slowenisch, ungarisch. Sebastian zum Beispiel nützt hier die Gelegenheit seine fast schon vergessenen Ungarischkenntnisse wieder aufzufrischen. Für die Gäste ist das praktisch. Für mich wird es schwierig. Ich brauche einen Dolmetsch. Und einen Übersetzer. Beim Check-in (die der Eingangstür zugewandte Seite der Theke wurde zu einem Schalter umfunktioniert) hängen viele kleine Zettelchen mit den aktuellen Infos für den nächsten “Dienst”, alles polnisch. Die Vermerke in den Gästelisten polnisch, die Aufschriften auf den Kästen mit dem Bettzeug und den Handtüchern polnisch. Der Hausleiter: “Sie und ich sind bis jetzt die einzigen Österreicher hier.”

Medizinische Versorgung? Erste Hilfe? Medikamente? Was dürfen die Ehrenamtlichen, was dürfen sie nicht? Einschulung? Wann ist die Rettung zu rufen? Wer zahlt den Einsatz, wenn sich herausstellt, dass er nicht notwendig war? Wer steht dafür gerade, wenn der Einsatz notwendig gewesen wäre? Wie ist es mit dem Schutz der Ehrenamtlichen? Ansteckende Krankheiten? Gibt es Informationen, ist eine Aufklärung vorgesehen, welche Krankheiten bei diesem Personenkreis am häufigsten vorkommen, wie man sie erkennt, sich schützt, werden Impfungen für die Ehrenamtlichen angeboten bzw. vom Träger der Einrichtung bezahlt? Wie ist es mit dem Brandschutz? Wie bemerkt man als Nachtdienst im Erdgeschoß, wenn es im Keller raucht oder zu brennen anfängt? Gibt es Melder, Sirenen? Die Wahrscheinlichkeit, dass bei 80 bis 100 Personen im Keller irgendwann etwas passiert, ist nicht unbedingt gering. Werden die Ehrenamtliche, die Nachtdienste übernehmen, für den Ernstfall geschult? Ich frage dem Mann Löcher in den Bauch. Vor allem mit dem letzten Fragenblock ist er sichtlich überfordert. Vielleicht fällt das wirklich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, aber … Ehrlich gesagt: Ich bin entsetzt. Ein “Solo-Nachtdienst” für bis zu 100 Personen ist per se schon nicht unbedenklich, dazu kommt hier aber noch a) die räumliche Trennung dieses heroischen Einzelkämpfers von den Gästen, b) dass die Gäste in einem Keller untergebracht sind und c) dass viele dieser Gäste physische und psychische Probleme haben und rauchen und trinken. Wenn bei diesen Gegebenheiten nicht wenigstens der bauliche und technische Brandschutz einwandfrei ist und jeder, der Nachtdienste übernimmt, bis ins Kleinste weiß, was er wann und wie zu tun hat …

Mit einer Frage kommt mir die liebe Ehrenamtliche zuvor: Wie das mit dem Alkoholkonsum ist. “Manche marschieren hier herein mit zwei Dopplern in der Hand. Was soll ich tun? Sie wieder hinausschicken? Sie hereinlassen?” Laut Hausordnung sind nur Spirituosen verboten und Pfarrer Pucher hat bei der Eröffnung am 10.Oktober ausdrücklich betont, dass es in den Vinzi-Einrichtungen kein Alkoholverbot gibt. Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Rätselraten die unbefriedigende, aber angesichts dieser Vorgaben einzig mögliche Antwort des Hausleiters: “Zu viel werden darf es halt nicht.” Wie handhabt man das bei 80 bis 100 Leuten? Und vor allem: Wer? Wer bringt die Alkoholiker, Depressiven, Agressiven, Lebenslustigen und -müden unter ihnen dazu sich nur gemäßigt zu betrinken? Der/die eine und einzige Ehrenamtliche??? Er/sie macht zwischen 18 und 22 Uhr den Check-in, führt die neu aufgenommenen Gäste in den Keller und weist ihnen ihre Betten zu, gibt Bettwäsche und Handtücher aus, Seifen, Rasierzeug, kontrolliert das Rauchverbot im Keller und den Alkoholkonsum, während die noch nicht eingecheckten Gäste vor der Haustür stehen und klingeln und klingeln und an die Tür mit dem Zettel “Komme gleich!” trommeln, bringt die Leute am späteren Abend dazu im Gastraum die Tische abzuräumen und -zuwischen und den herumliegenden Mist zu entfernen, schlichtet Streitereien, beugt Raufhändeln vor, verpasst bei Bedarf Hausverbote, holt, wenn notwendig, die Polizei, die Rettung, bewacht in der Nacht den Schlaf von 80 bis 100 Menschen, weckt sie um 6 Uhr in der Früh, bringt sie dazu um 7 Uhr das Haus zu verlassen, dann wird er/sie noch zusammenräumen dürfen … Wahrlich ein erstrebenswertes Wunderwuzi-Ehrenamt.

In meinem Kopf schwirren die Fragen, werden immer mehr, wie die Gäste, die schubweise bei der Tür hereinkommen, aber ich schicke sie in den Keller, sie sollen Ruhe geben und schlafen, weil die Antworten, die ich bekomme (falls es nicht ohnehin heißt: “Das weiß ich nicht.”), noch viel mehr Fragen aufwerfen, mir im Magen liegen wie nasses Brot. Und wenn ich zwei Leuten die gleiche Frage stelle, bekomme ich zwei unterschiedliche Antworten. Beispiel: Meine Frage: “Wenn ein Gast, der ein Bett belegt hat, am Abend nicht kommt - ist dieses Bett für ihn frei zu halten oder kann es an einen andern vergeben werden?” Antwort 1 (die liebe Ehrenamtliche): “Meistens sagen die Leute Bescheid, wenn sie nicht kommen und warum und wie lange sie nicht kommen, z.B., jemand muss überraschend ins Krankenhaus oder fährt übers Wochenende zu seiner Familie, in solchen Fällen wird das Bett ein paar Tage frei gehalten. Wenn jemand wegbleibt ohne sich abzumelden, machen wir es meistens so, dass wir drei Tage zuwarten, bevor wir das Bett neu vergeben.” Antwort 2 (der Hausleiter): “Jeder Ehrenamtliche entscheidet, wie er das handhaben möchte. Wenn Sie Dienst haben, sind Sie der Herr hier. Sie entscheiden.” Alles klar?

Um dreiviertel zehn sitze ich in der Straßenbahn. Dann in der Schnellbahn. Dann im Bus. Dazwischen immer wieder warten. Mindestens eine Stunde zum Hinfahren, mindestens eine Stunde zum Zurückfahren, Hin- und Rückfahrt 7 Euro. Wenn ich einmal pro Woche “Abend-Dienst” mache, kostet mich das pro Monat 28 Euro und viermal 6 bis 7 Stunden Zeit. Will ich das?

Zu allererst will und werde ich das Thema Brandschutz ansprechen, aufgreifen, nachfragen, die Problematik laut aussprechen, auf den Tisch legen, bewusst machen. Es hat nichts mit Nächstenliebe zu tun, wenn hier Menschen verbrennen oder sich in Panik gegenseitig zu Tode trampeln. Aber vielleicht ist ja alles in bester Ordnung, der Hausleiter der einzige, der von nichts weiß. Möglich ist alles.

Eines hat mir dieser Abend deutlich gezeigt: Es ist noch alles im Werden bei der “1. EU-Bürger Notschlafstelle in Wien” (so steht es in den Unterlagen, die bei der Eröffnung ausgegeben wurden). Außer der Masse an Gästen. Die Nachfrage ist enorm, der Bedarf. So wenig ausgegoren das Ganze auf den ersten, zweiten, dritten Blick noch ist - trotzdem liegt schon ein Tüpfelchen von etwas in der Luft, “wohnen” viele der Gäste schon hier, ist VinziPort jetzt ihr Zuhause, ihr Hafen zum Einlaufen am Abend nach einem langen Tag.

Der Gast, der mir am deutlichsten in Erinnerung ist von diesem Abend? Eine Frau. Sie saß auf dem ersten Bett im Frauenschlafraum auf der linken Seite, im Unter- oder Nachthemd, blaue Hände, die Beine blau bis über die Knie herauf, blonde Haare, müde, Alter irgendwo zwischen 30 und 40 Jahren (schätze ich). Sie lächelte freundlich, als wir bei der Tür hereinkamen und ich sie grüßte und mich schämte, dass wir hier einfach hereinplatzen.

Die Kommentare sind geschlossen.