Wir müssen wieder sterben lernen.

Was muss das für eine Hölle sein, wenn du dich von einem Schlaganfall zum nächsten hantelst, zuerst ohne Rollstuhl, dann im Rollstuhl, dann machst du dich an, kannst immer weniger, irgendwann gar nichts mehr selber tun, nicht mehr aufs Klo gehen, nicht mehr essen, trinken, du kannst nicht einmal aufhören damit, denn das lässt man dich nicht, du kannst auch nicht aus dem Fenster springen, dir eine Überdosis Tabletten geben, den Gashahn aufdrehen, nichts, irgendwann kannst du auch nicht mehr reden, dich den anderen nicht mehr verständlich machen, nur mehr um Hilfe röcheln in der angemachten Windel. Das ist so unvorstellbar grauenhaft, das ist Todeszelle pur und in der Todeszelle noch die Zwangsjacke. Und das Monate, vielleicht Jahre …

Drei Jahre ehrenamtliche Mitarbeit in einem Hospiz haben dieses Gefühl nicht so deutlich herübergebracht wie der Film Liebe von Michael Haneke.

Und wenn du niemand hast, der dieser Hölle irgendwann ein Ende setzt (wie in diesem Film der Ehepartner) und du deinen Willen nicht mehr äußern kannst und dich vorher nicht um eine gültige Patientenverfügung gekümmert hast, um im Fall des Falles wenigstens das Endloseste abzuwenden, wird sie mit allen Mitteln der modernen Medizin verlängert und verlängert. Das ist Folter pur. Im Namen der Ethik. Und wer dieser Ethik zuwider handelt, landet auf der Anklagebank oder/und im eigenen Messer.

Was muss der Mensch am Ende eines langen, langen Lebens noch alles aushalten! Warum? Weil wir verlernt haben selber zu gehen? Wie die Aborigines? Die alten Tiere einer Herde? Yogis? Östliche Mönche und Meister? Würden wir (noch) in dieser Tradition verwurzelt sein, würden wir den Tod als natürliche Schwelle ansehen, das Sterben annehmen als Teil des Lebens, möglicherweise sogar erleben können als Übergang von einer Dimension in eine andere. Zumindest wäre es nicht diese unsägliche Folter.

Wäre ich zur Zeit nicht selber in meiner Bewegungsfreiheit (für meine wehleidigen und bewegungsdurstigen Begriffe) massiv eingeschränkt, wäre diese Botschaft niemals so klar und unmissverständlich zu mir durchgedrungen. Danke, ihr meine momentanen Gitterstäbe! (Keine Sorge. Morgen beschieße ich euch wieder mit allen Giftpfeilen, die ich auftreiben kann.)

Auch wenn ich im Moment nicht weiß, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen soll: Wir müssen wieder sterben lernen. Oder andersherum ausgedrückt: Wir müssen das Leben und uns (wieder?) als das erkennen, begreifen, erfahren, was wir sind.

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