Ich muss dir jetzt schreiben. Samuel T.

Am 8. November 2010 (das Datum habe ich mir aufgeschrieben!) hab ich in der Fernsehsendung Thema einen Beitrag über dich gesehen. Am nächsten Tag hab ich gegoogelt und mir einen Presseartikel ausgedruckt. Es ist nur eine knappe Seite. Ich hab sie in eine Klarsichthülle gesteckt. Seither gibt es dich in meinem Leben. Und egal, wie tief ich dich unter Papierstapeln und Gesetzbüchern begrabe, du tauchst immer wieder auf. Und die Papierstapel werden immer höher und die Bücher immer mehr. Im Herbst vorigen Jahres hattet ihr wenigstens noch in einer Schublade Platz. In die hab ich euch nach jedem meiner gescheiterten Versuche, wieder in dieses strohtrockene Paragrafenzeug hineinzufinden, verräumt und weggesperrt. Dann war ich fast zwei Monate in Nepal. Dann war Weihnachten. Dann war Neujahr. Dann habe ich einen Großputz gemacht. Und seither …

ist die Schublade fast leer. Du liegst neben meinem Schreibtisch bei den Büchern, mit denen ich gerade irgendetwas zu tun habe oder haben sollte, meinem Teddybär und dem alten bemalten Elefant aus Ton, den ich aus  Nepal mitgebracht habe. Und im Wohnzimmer türmen sich Ordner mit Richtlinien, Verordnungen, Konventionen, Auszügen aus Unionsverträgen, EuGH-Erkenntnissen, Gesetzestexten und mittlerweile 11 Bücher. Und letzte Woche am Donnerstag und vorgestern und gestern war ich bei Seminaren in der Asylkoordination: BFA und Verwaltungsgerichte, Asyl- und Fremdenrecht – Neuerungen seit 1. 1. 2014). Gestern bin ich gegen 19 Uhr nach Hause gekommen und war fertig. Fix und foxi und aus und nichts mehr. Gleichgut kann man mich ohne Wasser in die Wüste schicken.

Deshalb muss ich dir jetzt schreiben, Samuel. Weil ich nicht recht weiter weiß. Ich bin jetzt 58. Übermorgen werden es 9 Jahre, dass ich die Juristerei gelassen habe. Ich wollte nie wieder den „Willen des Gesetzgebers“ spielen oder erforschen, nie wieder Maulwurfsgänge in Hallen der Weisheit uminterpretieren, nie wieder zu Formulierungen “Recht” sagen müssen, die zwischen Aktenbergen und Besprechungsterminen hingeschmiert und hinter gepolsterten Türen aufpoliert und zurechtgebogen wurden. Wie soll ich jetzt wieder zurück? Samuel! Ich kriege Platzangst in diesem Knäuel aus Mini-Fristen, Säumnisfolgen, Neuerungsverboten, Mitwirkungspflichten, fehlenden aufschiebenden Wirkungen, Aus- und Zurückweisungen, Aufenthalts- und Einreiseverboten, Rückkehrentscheidungen, Anordnungen zur Außerlandesbringung, Drittstaatsicherheiten, Schubhafttatbeständen, wegfallenden Befreiungsscheinen, unverändert aktuellen Beschäftigungsbewilligungen, Kontingenten u.u.u. Selbst wenn ein Wunder geschehen sollte und ich mir diesen Mist merke. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas bewegen kann in diesem Käfig (außer meinen Kopf gegen die Wand). Das Fremdenrecht ist ein Monster. Würde es nur einer Feder entstammen, könnte man sagen: der Ausfluss eines kranken Gehirns. Aber es basteln so viele Gehirne daran und ununterbrochen.

Ich schäme mich unendlich für „meine“ Gesellschaft. Ich glaube, das ist es, was ich dir heute in erster Linie und hier und jetzt sagen will. Sagen muss. Samuel T. Alles andere muss ich mit mir ausmachen.

Ich habe kein Gesicht zu deinem Namen. Ich weiß nur, dass es sehr jung sein muss. Auf einem meiner Khalil Gibran Lesezeichen, die mich in diesem grausigen Labyrinth begleiten, ist ein junges, dunkles Gesicht abgebildet. Man sieht eigentlich nur die Augenpartie. Alles andere ist in lachsfarbene Tücher gewickelt. Der junge Mann steht in der Wüste. Darunter der Text: Die Liebe und der Tod sind es, die alles verändern.

Samuel …

Zur Information:

Samuel T. kam im September 2005 nach Österreich. Er kam aus Äthiopien und war damals 14 Jahre alt. Er stellte einen Asylantrag und wurde in einem Heim der Caritas Graz für minderjährige Flüchtlinge untergebracht. Er besuchte die Hauptschule und schloss auch den Polytechnischen Lehrgang positiv ab. In der Freizeit spielte er bei einem Verein in Graz Fußball. Sein Asylantrag wurde im Lauf der Jahre von allen Instanzen negativ beurteilt. Auch seine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wurde im Dezember 2008 ab- oder zurückgewiesen. Im März 2009 stellte er einen Antrag auf humanitäres Bleiberecht. Für ihn wurde es eng. Er wurde volljährig. Und das hieß: Die mit der Abweisung seines Asylantrags verbundene Ausweisung wurde nach seinem 18. Geburtstag durchsetzbar und er konnte abgeschoben werden. Im Sommer 2009 wurde er in Schubhaft genommen. Aber den Behörden gelang es nicht, ein Heimreisezertifikat für und von Äthiopien zu besorgen. Samuels Beschwerde gegen die Schubhaft wurde stattgegeben (sprich: sie wurde als rechtswidrig festgestellt) und es wurden ihm 2100 Euro Schaden- oder Kostenersatz zuerkannt. Dafür wurde er aus der Grundversorgung in Graz entlassen und stand jetzt auf der Straße. Er ging nach Wien. Zuerst wohnte er bei Freunden, später kam er in einem Caritas Heim unter. Über seinen Antrag auf humanitäres Bleiberecht wurde nicht entschieden. Im August 2010 versuchte er zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen: Er trank Lauge. Aber er konnte im Otto-Wagner-Spital gerettet werden. Dort sprang er aus dem zweiten Stock und zog sich schwere Verletzungen zu. Er wurde ins Hanusch-Krankenhaus überstellt und verbrachte einige Zeit im künstlichen Tiefschlaf. Am Freitag, dem 1. Oktober, wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Er konnte wieder selbstständig gehen. Zehn Tage später wurde seine Leiche bei Hainburg aus der Donau gefischt.

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