Auch mein Afghanistan-Projekt ist (gelinde gesagt) aus dem Ruder gelaufen.
Welches Afghanistan-Projekt?
Ursprünglich war es kein Projekt. Ursprünglich war es ein einzelner junger Mann, 22 Jahre alt, ein junger Afghane, den ich 2018, 2019 durch sein Asylverfahren und später in Afghanistan begleitet habe. Wen seine Flucht- und Asyl-Geschichte interessiert, kann sie auf meiner Webseite nachlesen (TEXTE/Samuel T., Kapitel 1, S. 14-16, 20, 31-40). Er ist “der junge Kabuli mit den vier toten Brüdern”. Im Text habe ich ihm den Namen Sarwar gegeben. Das ist der Name seines (toten) Lieblingsbruders. Tatsächlich heißt er Jawad wie tausende andere Afghanen auch. Er ist ein junger Intellektueller, literarisch interessiert, ich glaube, er würde auch gut schreiben, im praktischen (Über)Leben allerdings äußerst ungeschickt. Und dazu noch traumatisiert und eigensinnig, mit einem Hang zur Selbstzerstörung (so weigerte er sich beispielsweise vehement, seine Traumatisierung ärztlich begutachten zu lassen, obwohl ihm das im Verfahren sicher geholfen hätte). Alles in allem keine gute Basis für ein Leben in Afghanistan …
Und da er keine Familie mehr hatte und mir die Verhältnisse in Afghanistan aus den Länderberichten hinreichend bekannt waren, befürchtete ich, dass dieser Traumtänzer dort allein sicher nicht überleben wird. Deshalb habe ich ihn nach der negativen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes (alleinstehende, junge, augenscheinlich gesunde, gebildete Männer, die vor ihrer Flucht in Kabul gelebt hatten, wurden damals grundsätzlich zurückgeschickt, auch wenn kein familiäres Netz und keine sonstige Verwandtschaft mehr vorhanden war) auch im Verfahren vor den Höchstgerichten unterstützt. Da es aber leider keinen Verfahrensfehler gab und die Beweiswürdigung frei ist und ausführlich genug war, wurden die Rechtsmittel abgewiesen. Und Jawad war geschockt und fertig genug, das Handtuch zu werfen und freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren. Das wiederum konnte ich nicht mit ansehen, ohne ihm immer wieder zu helfen, wenn ich das Gefühl hatte, jetzt wird es zu eng. So hielten wir sporadisch Kontakt.
Als im Frühsommer 2021 die Machtübernahme durch die Taliban absehbar war, beschloss ich, ihn aus Afghanistan herauszuholen. Er fiel aus allen Wolken, murmelte verdattert “But I don’t have a passport!” und ich startete eine Spendenaktion innerhalb meiner Familie und meines Bekanntenkreises, um Geld für seine Flucht zu sammeln. (Das war meine einzige Spendenaktion und äußerst aufschlussreich … Über einige Spender und Spenden habe ich mich sehr gefreut. Aber für die vielen im Wohlstand lebenden Groscherlnklauber in meinem näheren Umfeld habe ich mich so geschämt, dass ich mir vorgenommen habe: Nie wieder! Entweder ich helfe aus Eigenem oder ich helfe nicht.) Jawad beantragte währenddessen im Dohuwabohu der bevorstehenden Einnahme Kabuls durch die Taliban einen Reisepass. Die Tage, als sie die Macht übernahmen, und die Wochen nachher waren aufregend wie ein Krimi. Jawad berichtete täglich mehr oder weniger live aus Kabul. Er war natürlich auch täglich am Flughafen, nur an dem Tag des blutigen Attentats durch den IS (unmittelbar beim Flughafen Kabul im September 2021, als alle Afghanen panikartig das Land verlassen wollten) zum Glück nicht. Die Menschen mussten Unglaubliches durchgemacht haben in diesen Tagen. Niemand wusste, was im nächsten Augenblick passieren würde, wie sich die Taliban als frischgebackene Herrscher verhalten würden. Auch in den Nächten war die Angst groß. Jawad gehört zu einer Volksgruppe, die sowohl vom IS als auch von den Taliban abgelehnt wird. Aber es wurde Herbst und niemand klopfte an seine Tür und holte ihn. Und es wurde später Spätherbst, als er den Reisepass endlich bekam. Jetzt war es zu spät im Jahr, die Wetterverhältnisse zu schlecht, um die Flucht anzutreten. Das sah auch Jawad ein. Und er fragte, ob er das Geld für die Flucht vorerst in ein Taxi investieren dürfe, damit würde er über den Winter bis ins Frühjahr hinein seinen Lebensunterhalt verdienen und vielleicht noch ein bisschen Geld dazuverdienen können. Alle Spender waren mit dieser vernünftigen Lösung einverstanden.
Das mit dem Taxifahren funktionierte recht gut und irgendwann erzählte er mir, dass er begonnen habe sich um die schwangere Frau eines Freundes zu kümmern, der bei dem erwähnten Attentat des IS beim Flughafen Kabul im September 2021 schwer verletzt und einige Tage später gestorben war. Ich fand das super. Als das Kind zur Welt kam, es war ein Mädchen, gab sich Jawad vor der Behörde als Vater an und heiratete die Frau. Auch das fand ich super. Dass sich die Flucht dadurch wieder verschob, war klar. Jawad besorgte allerdings sofort Pässe für seine beiden Damen … und sorgte in der Folge liebevoll und ohne weitere finanzielle Unterstützung von meiner Seite für seine kleine Familie. Endlich war er nicht mehr allein. Ich war sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Und stolz auf diesen unüblichen afghanischen Mann.
Aber die Taliban schränkten die Rechte der Frauen immer mehr und mehr ein. Und das Wort Flucht tauchte immer öfter wieder auf. Und ich verstand die beiden gut. Jawads Frau war vor der Machtübernahme durch die Taliban Sportlehrerin gewesen. Jetzt durfte sie nichts mehr. Nur mehr zuhause sitzen. Und die Tochter würde absehbar nicht mehr als die Grundschule besuchen dürfen, wenn überhaupt. Denn in einigen Jahren konnte alles noch viel schlimmer sein. Das waren keine Zukunftsperspektiven. Das waren Aussichten in ein Kellerloch … Also fing Jawad an, Pläne zu schmieden, wissend, dass es in einer Entfernung von 4.560 km Luftlinie jemand gab, der bereit war zu helfen. Zu dritt, noch dazu mit einem Kleinkind, ist eine Flucht allerdings etwas ganz anderes als wenn man sich als junger Mann allein auf den Weg macht. Ich konnte aus seinen Mails förmlich hören, wie er sich den Kopf zerbrach.
Für mich stand fest: Ich will die drei legal in Sicherheit bringen. Ohne Schlepper, ohne illegale Einreise irgendwo, ohne illegalen Aufenthalt. Sie mit regulären Aufenthaltstiteln nach Österreich zu bringen, hätte meine finanziellen Möglichkeiten allerdings gesprengt. Aber solange sie noch halbwegs ungeschoren in den Iran reisen konnten, konnte ich ihnen helfen, von dort aus ganz regulär mit Visa in einen Staat mit einem UNICEF- oder UNHCR-Lager zu reisen, von wo aus Afghanen im Rahmen eines Resettlement-Programms an Staaten vermittelt werden, die sich bereit erklären sie als Flüchtlinge aufzunehmen. In diesem “Zwischenstaat” müssten sie zwar einige Jahre leben, aber besser als in Afghanistan wäre es allemal. Man muss nur ein Land finden, in dem sie sich während dieser Wartezeit über Wasser halten können.
Ich holte Informationen ein und schickte sie Jawad. In Malaysia beispielsweise dürfen die Flüchtlinge nach ihrer Registrierung im UNICEF-Camp ganz regulär leben und arbeiten. Auch Frauen. Die Wartezeit bis zur Aufnahme durch einen am Resettlement-Programm beteiligten Staat ist allerdings sehr lang, weil sehr viele Flüchtlinge dort auf eine Aufnahme warten. Der Freund eines mir bekannten Afghanen hat 8 Jahre gewartet. Aber diese Wartezeit hat sich ausgezahlt. Jetzt lebt er in Neuseeland. Das ist doch allemal besser, als ein Kleinkind bei einer schlepperunterstützten Flucht nicht absehbaren Gefahren auszusetzen. Und eine Reise nach Malaysia mit zeitlich ausreichend dimensionierten Visa zu organisieren wird ja nicht so schwer sein. Dachte ich …
Jawad war schon mitten in der Aufbruch-Euphorie, als eine Bekannte mit Kind auftauchte, deren Mann schwerer Alkoholiker war und sie mit ihrer kleinen Tochter sitzen hatte lassen. Jawad fragte mich nicht. Er erzählte mir nur von ihr. Ich fragte ihn. Ich wollte ohnehin afghanischen Frauen helfen, warum also nicht gleich diesen beiden? Sie mussten ja nicht unbedingt mit nach Malaysia, ein Leben im Iran wäre für sie wahrscheinlich auch schon besser als in Afghanistan.
Spätestens jetzt hatte ich “mein Afghanistan-Projekt”. Es würde viel Geld kosten, aber ich würde fünf jungen Menschen helfen können. Nach der Finanzierung dieser Flucht würde ich mich allerdings aus ihrem Leben ausklinken, auch aus dem von Jawad, und ihnen/ihm keinen Cent mehr schicken. Das vermittelte ich Jawad eindrücklich.
Wir mailten wochenlang hin und her, ich diskutierte mit ihm die Gefahren und möglichen Probleme bis zum Umfallen. Er war so zuversichtlich, so motiviert. Er explodierte fast vor Glück. Ich holte ihn von seinen Wolkentürmen immer wieder herunter und versuchte ihm die mit der Flucht verbundenen Gefahren bewusstzumachen und das Risiko, das sie alle eingingen, wenn sie die Existenzgrundlage, die sie jetzt in Afghanistan hatten, aufgeben und ins Ungewisse reisen. Die fünf hatten nämlich beschlossen, gemeinsam zu reisen, da die alleinstehende Frau mit Tochter in keinem der Nachbarstaaten einen Verwandten hatte, der sie aufnehmen könnte.
Jawads Euphorie wuchs in den Himmel, meine Bedenken wurden von Tag zu Tag größer. Würde er das wirklich schaffen? Aber dann dachte ich, dass jeder Mensch das Recht auf eine große Chance in seinem Leben hat. Wieso soll er diese Chance nicht bekommen? Und in Malaysia dürfen sie arbeiten und die Frauen müssen sich nicht hinter Schleiern und Burkas verkriechen. Das ist doch für alle besser als ein Leben in Afghanistan. Aber bevor ich den letzten Teil des Geldes (für die neu dazugekommene Frau mit Kind) auf die Reise schickte, bat ich Jawad, dass sie sich noch einmal in aller Ruhe zusammensetzen und gründlich überlegen und besprechen sollen, ob sie die Flucht tatsächlich wagen oder das Geld besser zum Überleben in Afghanistan oder im benachbarten Iran verwenden wollen. Auch damit wäre ich einverstanden.
Die Antwort war absehbar. Dazu noch jede Menge euphorischer Draufgaben wie diese: “I promise you, happiness will never disappear from their faces again” Oder so ähnlich.
Von wegen …
Er hat alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Ich war verblüfft, dass man so viel falsch machen kann und vor allem, was man alles falsch machen kann. Eine Hiobsbotschaft folgte auf die nächste. Und ich hatte keine Möglichkeit mehr, einzugreifen. Es war, als habe er in seiner Fluchtpanik oder -manie oder -euphorie den Bezug zur Realität komplett verloren. Ich war zwischendurch so wütend, dass ich den Kontakt abbrach. Damals war ich gerade in Nepal.
Letztendlich hat er es nicht einmal geschafft, sich und seine Schäfchen aus Afghanistan hinauszubringen. Er hat sich dermaßen ungeschickt und zum aufs Hirn greifen blödsinnig angestellt, dass sie von den Taliban noch vor ihrer Ausreise am Flughafen Kabul abgefangen wurden. Man hat ihnen alles abgenommen (Geld, Pässe, Flugtickets), sie einige Wochen ins Gefängnis gesteckt, Jawad einige Peitschenhiebe verpasst und alle mit einem Ausreiseverbot belegt. Geschehen im Jänner und Februar dieses Jahres.
Das war mein Afghanistan-Projekt. Ein sauteurer Spaß …
Ich habe in der Folge die Verbindung zu Jawad beendet. Genauso, wie ich es ihm vorher angekündigt und eingeschärft hatte. Jetzt muss er seinen Weg ohne mich gehen. Vielleicht hilft ihm das sogar. Wenn er weiß, dass da nichts und niemand mehr ist. Nur er. Und seine Familie, die ihn dringender braucht denn je.
Ob es mir leid tut, dass ich so viel Geld investiert habe? Gelegentlich JA. Meistens aber NEIN. Ich wollte einer Gruppe junger Menschen die Chance geben ein besseres Leben zu leben. Ich wollte nicht von vornherein sagen, das geht nicht, das schafft Jawad nicht.
Traumtänzer schaffen viel. Auch Jawad. Es dauert nur länger. Und es ist harte Knochenarbeit. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich musste knallhart in der Realität aufschlagen, mit Kind und ohne irgendeine Hilfe. Erst dann habe ich bemerkt, dass auch ich Beine zum Aufstehen und Gehen habe. Und dass ich eigentlich ganz brauchbar bin. Auch außerhalb meiner Traumtänze.
Ich werde zwar nichts mehr davon erfahren, aber ich bin zuversichtlich. ICH WÜNSCHE DIR AUS GANZEM HERZEN ALLES GUTE, JAWAD!