In den Tag hineingehen mit nichts

als dem Vertrauen, dass das Leben schon das Richtige vorhat mit mir/uns.

Kein guter Satz? Vor allem nicht im Angesicht der Krise? Für mich ein guter Satz. Nach mehr als vier Jahren noch immer. Trotz Krise.

Ich schrieb diesen Satz in mein Tagebuch (es war im Feber 2005), als ich dabei war mein Beamtendasein zu beenden (sprich: mein pragmatisiertes Dienstverhältnis zur Stadt Wien zu lösen) und die Gegenargumente und Reaktionen aus meinem Umfeld auf mich einprasselten wie faustdicke Hagelkörner. Wem ich etwas bedeutete, der versuchte mir diesen Schritt auszureden, vehement, andere lachten über mich, freuten sich auf meine Talfahrt, hielten mich für verrückt, blauäugig, eine, die keine Ahnung hat, wie es im Leben zugeht, die arrogante Ausbrecherin, die schon sehen wird, wo sie landet, die ewig Andere, die zwar fachlich gut ist und zuverlässig, aber nie in die Gruppe gepasst hat, hat jetzt offensichtlich den Verstand (ganz) verloren und weiß nicht mehr, was sie tut.

(Zum besseren Verständnis: Man ist als Beamter nicht nur so gut wie unkündbar, man kann auch Jahre lang in Karenz gehen ohne seinen Job zu gefährden, das heißt, ich hätte mir jede Menge Freiheit gönnen können, ich hätte Jahre lang aussetzen und dann ausgeruht und braungebrannt und entspannt die wenigen verbleibenden Jährchen bis zu meiner Pension in irgendeiner Außenstelle, wo ich nichts anrichten kann - wenn man Jahre lang draußen war, ist man draußen -, absitzen können oder ich hätte mir während der Karenzzeit ein neues Standbein schaffen und erst dann die Krücke öffentlicher Dienst beiseite legen können, was natürlich auch dumm wäre, aber immer noch besser als das, was ich vorhatte, das Beste wäre natürlich das alte Standbein neben das neue stellen, dem neuen das Etikett ‚Nebenbeschäftigung’ verpassen und mit so vielen Beinen wie möglich in Pension gehen, ein bisschen früher, wenn möglich, wegen der angeschlagenen Gesundheit, vorher ein paar ausgiebige Kuren nach ein paar ausgiebigen Krankenständen, alles ist machbar im öffentlichen Dienst, innerhalb der Norm. Denkbar ist nur DAS nicht.)

Kein Mensch verstand, warum ich tat, was ich tat. Noch dazu in einer Zeit, in der die Jobs immer weniger und härter werden, die Lebenserwartung steigt und die Pensionen sinken (sprich: an allen Ecken und Enden Versicherungen und sonstige Schwimmreifen gefragt sind). In Zeiten wie diesen einen todsicheren Arbeitsplatz hinschmeißen und ins Blaue hineingehen ist … Gleich gut könnte man aus dem Paradies hinausspazieren oder/und ins Irrenhaus hinein. Ich dachte mir das gelegentlich auch und dass es gut ist, dass die anderen nicht wissen, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie sich nach meinem Austritt mein Leben gestalten wird. Ich hatte mir keinen Ersatzjob gesucht, keinen Plan gemacht, ich stellte mir nichts vor. Alles, was ich hatte, war ein Manuskript, das wie ein Bumerang von den Verlagen immer wieder zu mir zurückkam. Trotzdem glaubte ich zu wissen: Hier bin ich fertig. Jetzt ist etwas anderes an der Reihe und damit auch etwas anderes als diese Art der Sicherheit.

„Etwas, das für dieses Andere, das jetzt an der Reihe ist, genauso essentiell ist wie die Pragmatisierung für einen Beamten: das Vertrauen ins Leben, dass das Richtige geschieht, wenn ich mich aufrichtig (und ich meine aufrichtig) bemühe. Wobei das Richtige nicht gleichbedeutend sein muss mit angenehm oder erfolgreich. Das Richtige ist das Richtige und damit bin ich genau dort, wo die Worte und die Beamtenseelen aufhören und sich herausstellt, dass die meisten, die ich kenne, Beamtenseelen sind oder haben, denn wo das Vertrauen ins Leben und seinen Sinn beginnt, hört ihr Verständnis unvermittelt auf. Vielleicht ist es auch die Wortfolge ‚sich aufrichtig bemühen’, irgendetwas ist es, das sie anstarren wie das Ungeheuer von Loch Ness …“,

schrieb ich in mein Tagebuch. Zehn Tage später legte ich dem Dienststellenleiter meine Austrittserklärung vor.

Der erste April 2005 war mein neunundvierzigster Geburtstag und mein erster Tag ‚draußen’. Der erste Tag, in den ich hineingegangen bin ‘mit nichts …’ Seither bin ich geringfügig beschäftigt, lebe so wach und aufmerksam wie möglich und schreibe. Nicht, dass ich vorher geschlafen hätte, aber es gibt Vieles, das man ausblenden muss, an dem man vorbeischauen muss, das man nicht an sich heranlassen, also nicht sehen darf, auch wenn es einem kerzengerade ins Gesicht schaut, man muss die Augen mehr zu als offen haben, oft darf man nicht einmal blinzeln, wenn man innerhalb der Spielregeln für ein sattes Dasein funktionieren will.

Unterm Strich hat sich an dem, was ich tue, aber nichts geändert. Ich habe nach wie vor mit Gesetzen und mit Grenzen zu tun. Habe ich vorher im Paragrafendschungel am Unterholz mitgebastelt (ich war als Juristin und in den letzten Jahren hauptsächlich im Bereich Legistik tätig) und mit wenig Erfolg versucht die Risse in meinem Hirn zu kitten (in engen Denkmustern neige ich zur Platzangst), nenne ich diese Risse jetzt Türen und erkunde den Dialog von Endlichkeit und Unendlichkeit, der in jedem Augenblick überall stattfindet. Segeln lernen ist mein Wort dafür. Bewusst neu Land betreten. Da sein.

Was habe ich nach vier Jahren vorzuweisen?

Ein bisschen Mut vielleicht. Keine Panikattacken mehr. Das Wissen irgendwo, dass ich auf dem richtigen Weg bin, auch wenn ich keine Ahnung habe, wohin er mich führt. Müsste ich mich heute noch einmal entscheiden, ich wäre noch überzeugter als damals. Ich lerne jeden Tag. In der freien, krisengeschüttelten Wildbahn ungleich mehr als im bombensicheren Bunker der grauen Paradiesvögel. Meine kleine Eigentumswohnung habe ich noch. Meine Lebensversicherung auch. Mein monatliches Einkommen beträgt derzeit 357 Euro (das ist die Geringfügigkeitsgrenze), was ich mehr brauche, zahle ich dazu. Angst habe ich bis jetzt trotzdem keine. Die hatte ich vorher. Im Bunker. Was kann mir passieren? Solange ich wach bin und aufmerksam, kann ich praktisch nur lernen. Schlimmstenfalls verliere ich meine Wohnung und stehe allerspätestens dann als Versager da. Das ist für mich die größte Herausforderung, seit ich mich außerhalb der Norm bewege: mich von ihrem Urteil zu lösen und – und das ist die noch viel größere - mich trotzdem nicht abzuwenden. (Das ist das Problem aller ‚auf der Straße’.) Bestenfalls komme ich zu dem Punkt, an dem ich die Wände um mich herum aus freien Stücken aufgebe, hergebe, verlasse, hinter mir lasse, anderen überlasse, sie ihre Bedeutung für mich verlieren, ich sie nicht mehr brauche, meinen Platz vielleicht ‚auf einer Matte zwischen vielen Matten’ als sinnvoller erachte.

Das ist kein Weg für jedermann. Für mich ist es der einzig mögliche. Hätte ich den Bunker damals nicht verlassen und mein Leben auf den Kopf und völlig neue Beine gestellt, wäre ich früher oder später verrückt geworden. Davon bin ich mittlerweile überzeugt. Dafür könnte ich meine Wohnung mit goldenen Türschnallen ausstatten und niemand käme auf die Idee, zu sagen, ich bin ein Versager. Im Bunker kann man nicht versagen. Nicht einmal ein durch und durch Versager schafft das. In diesem Schwimmreifen (Netz ist auch ein Wort) bleibt alles hängen. Trotzdem (deshalb) glaube ich die Geschichte mit dem Paradies nicht ganz. Die Vertreibung war keine Strafe.

PS: Thema SCHREIBEN

2008 ist ein Buch von mir erschienen. 200 Seiten mit dem Titel Grenzenlos. Das, was ich gern zwischen diesen Buchdeckeln gesehen hätte, ist allerdings etwas anderes. Es ist eine Geschichte, die von drei Geschichten erzählt wird, wobei jede anders und so gestaltet ist, dass sie auch für sich stehen bzw. gelesen werden kann und alle als eine gelesen eine andere ergeben. Mittlerweile habe ich begriffen, dass das außer mir niemand so sieht, die Verlage, denen ich dieses Projekt geschickt habe, jedenfalls nicht. 80% hüllten sich in Schweigen, die restlichen schickten mir einen höflichen Formbrief, ein verschwindend kleiner Teil nahm sich die Mühe mir zwei bis drei Sätze mit Inhalt zu schreiben. Das sind Tagebücher, las ich. Manche setzten noch nach: ohne literarische Tiefe.

Was ist literarische Tiefe?

Mir sind in meinem Leben ein paar Dinge aufgefallen, von denen ich glaube, dass sie nicht nur mich etwas angehen - z.B., wie viele Symbole sich in der Geschichte eines Menschen finden oder wie verbunden alles mit allem ist, wie innen mit außen kommuniziert, oben mit unten, wie die Gegensätze ineinander fließen, miteinander verflochten sind wie die Stränge eines Muskels und dass es nichts gibt in diesem Gefüge (mein Wort dafür ist Organismus), das keinen Dialogpartner hat und dass ein anderes Wort für Dialog Fruchtbarkeit ist und das selbst dann, wenn r und u vertauscht sind. Ausschnitte aus meiner persönlichen Geschichte sollen das sichtbar machen.

Ist das zu wenig für ein Buch? Oder zu tief?

Ich habe versucht ein Stück Ornament Leben freizulegen. Es kann natürlich sein, dass ich noch nicht gut genug bin in dieser Arbeit oder/und das ent-Deckte nicht gewohnt genug ist. Aber dieses Ornament ist da. Und ich schaue für mein Leben gern hin. Und je älter ich werde, desto geringer wird meine Fähigkeit wegzuschauen. Sie wird immer weniger. Wie meine Haare. Das ist auch der Grund, warum ich die Juristerei gelassen habe. Ich schaffe es nicht mehr aus Paragrafen straffende Hautcremes, Glückspillen und Baldriandragees zu basteln. Dazu bin ich viel zu fasziniert von dem Wunderwerk, das unter unserer Fettschicht arbeitet.

Im Herbst 2007 - ich hatte schon das Recht für den Abdruck eines Fotos als Buchcover erworben und mir einen Laptop mit den notwendigen Computerprogrammen ausgeborgt und wollte gerade den Versuch starten selbst eine Druckvorlage zu machen um sie an BoD (ein Book-on-Demand-Anbieter) zu schicken - hat sich endlich ein Verleger gemeldet: „Ich weiß zwar nicht, ob das, was Sie da schreiben, jemand liest, aber wir können es versuchen.“ Und: „Ich kann aber nicht alles verlegen. Ich verlege nur Texte bis maximal 200 Seiten.“ Nach dem Motto ‚ohne richtigen Verlag kein richtiges Buch’ habe ich das Angebot freudig angenommen, die Geschichte in ihre Teile zerlegt, den Teil Grenzenlos auf 200 Seiten heruntergekürzt und samt Nutzungsrecht für drei Jahre abgegeben als Gegenleistung dafür, dass er zwischen zwei Buchdeckeln verschwindet. Dann habe ich erleichtert auf- und durchgeatmet, einen riesigen Seesack gekauft und gepackt und bin, einer ganz lieben Einladung folgend, drei Wochen über den Atlantik gesegelt.

2008 war ein Buch-Intensivjahr: Tageszeitungen und Literaturzeitschriften anschreiben und um eine Rezension bitten, Orte für Verlagspräsentationen und Lesungen auskundschaften,  Termine vereinbaren, nach einem Zauberspruch suchen, der die Bücher aus der Schublade des Verlages in die Buchhandlungen bringt, da sich keiner findet, selber Buchhandlung für Buchhandlung abgrasen, die mitleidigen Blicke der Buchhändler auf das Outfit des Buches genießen und ihr „In dem Buch kann drinnen stehen, was will, so etwas kauft bei uns niemand“, es mit einem anderen Dreh versuchen, sprich: dem Verlag Bücher zum Ladenpreis minus 40% Rabatt abkaufen und im Gießkannenprinzip als Kommissionsware über die Buchhandlungen verteilen, die nicht verkauften nach ein paar Monaten wieder einsammeln, für die verkauften jeder Buchhandlung eine Rechnung schicken (die Buchhandlung bekommt natürlich auch 40% Rabatt vom Ladenpreis), mit den nicht verkauften darf ich mir am Flohmarkt ein paar schöne Wochenenden machen oder zuhause einen Bücherberg bauen, weil sie ihren Aufenthalt in den Buchhandlungen meistens nicht ohne Beschädigung überstehen … Neben diesen lukrativen Verlagsarbeiten habe ich (mit viel Hilfe) meine Web-Seite auf die Füße gestellt (www.freygeist.at), auf der u.a. die zwei ungebundenen Teile meiner Geschichte stehen, Sprechunterricht genommen, meine Stimme trainiert und lesen gelernt (es klingt komisch, aber wer schreibt, muss/sollte lesen lernen), mich auf jede Lesung sorgfältig vorbereitet, entdeckt, dass Lesungen intensive Kommunikation sein können und auch mit nur drei Zuhörern großartige Erlebnisse. Ich habe viel gelernt in diesem Jahr, alles gegeben, was ich hatte.

Im Feber 2009 habe ich einen Punkt gemacht. MEIN Job bei diesem Buch ist getan. Wer immer es lesen will - das gedruckte oder/und das ungedruckte -, kann es lesen. Wer es braucht, wird es finden. Davon bin ich überzeugt. Das Leben ist so. Das Cover für das Ganze, bestehend aus 1) Grenzenlos, 2) das Schneckenhaus und 3) Götter und tote Babys (zu lesen in dieser Reihenfolge) steht auf meinem Schreibtisch. (Wen es interessiert: es ist das Foto auf Seite 124 des Buches „… als lebten die Engel auf Erden“ von Gerald Axelrod, erschienen im Eulen Verlag, Sonderausgabe 1999.) Der Titel: Der Rand des Raumes

Die Atlantiküberquerung habe ich natürlich auch in ein Prosastück gezwängt (Äquatortaufe) und zu den beiden anderen auf die Web-Seite gestellt. Der Satz, mit dem es beginnt, stammt nicht von mir. Der Wachführer hat ihn zu mir gesagt. Es war Nacht und ich war am Ruder und ich wusste nicht wie und wohin, der Kompass war zu beschlagen: „Siehst du den rötlich leuchtenden Stern? Er ist der einzige, der rötlich ist. Das ist der Mars. Auf den fahr zu. Fahr einfach auf ihn zu.“  

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