Tag 2 (16. Juni 2010)

06:45 Uhr. Morgensport. Joggen. Die jungen Leute sind in der Früh schwer aus dem Bett zu bringen. Es wird 7 Uhr, bis wir loslaufen. Eine Hand voll „Kinder“ und drei Erwachsene. Wir laufen Richtung Laza, treffen unterwegs Stefanie (sie wohnt im Laza, weil sie mit Marius verheiratet ist und ist jetzt unterwegs ins Juda), dann laufen wir wieder zurück. Alles in allem eine halbe Stunde. Tut gut. Macht Spaß. Dann schnell unter die Dusche.

07:45 Uhr. Kapelle. Keine Messe. Es wird viel gesungen, begleitet von Gitarre, Trommeln, Keyboard, ein Evangelium wird gelesen (das Evangelium wird im Juda auch in Deutsch gelesen), dann folgen ein paar Worte zu seinem Text durch den, der die Andacht leitet (in diesen Tagen im Juda meistens Stefanie), Gebete werden gelesen, jeder formuliert eine Fürbitte, Gäste wie ich dürfen das auch in Deutsch. Mitten in den Fürbitten fangen alle zum Lachen an. Ein Bursche wünscht Ruth Zenkert und Pater Sporschill, dass sie endlich auch eigene Kinder bekommen. Wofür soll ich bitten und wen? Ich bitte niemand, ich wünsche den jungen Leuten von ganzem Herzen, dass jeder von ihnen den Weg in ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben findet.

08:30 Uhr Frühstück. Angenehm spartanisch. Schwarzbrot, Margarine, Marmelade, etwas Müsliähnliches, Milch, Tee. Kaffee (leider) nicht. „Wir essen, was die Kinder essen.“ Ruth Zenkert. „Es geht hier ausschließlich um die Erziehung der Kinder, sonst um nichts.“ Wie mein erster Tag war. Ich spontan: „Fremd.“ Soll heißen: jede Minute neu, ungewohnt. Ob ich Fragen habe. Ja. Eine. Stimmt es, dass die Andacht in der Kapelle für „die Kinder“ Pflicht ist und dass sie, wenn sie nicht daran teilnehmen, auch nicht am gemeinsamen Essen teilnehmen dürfen? Ein entsetzter Blick. Natürlich nicht. Es sei ganz wichtig, dass alles, was mit dem Glauben zu tun hat, freiwillig passiert. Die Idee mit der Kapelle sei sogar von den Kinder gekommen. Es sei ihnen ein Bedürfnis sich bei Gott zu bedanken. Aber sie werde nachfragen, ob während ihrer Abwesenheit hier etwas eingeführt wurde, von dem sie nichts weiß.

Nach dem Frühstück verkündet Stefanie das Programm für den Tag, nach dem Gebet sagt Fabian mir meines: Mitarbeit im Laza. Küchendienst. Und: Heute kommt Pater Sporschill. Er liest um 18 Uhr hier im Juda eine Messe, zu der auch die Laza-Leute kommen und Kinder und Erzieher aus anderen Concordia-Häusern, anschließend gibt es ein gemeinsames Essen hier im Garten, das vom Laza geliefert, sprich: dort gekocht wird. Wird ein heißer Tag heute … Der nette, dicke Vorarlberger und ich stapfen gemeinsam ins Laza. Er heißt Michael, will Behindertenbetreuer werden.

Der Küchenchef im Laza heißt Didi (schreibt man sicher nicht so), ist energisch, sehr nett. Er arbeitet seit drei Jahren hier. Hat seine Mannschaft (bestehend aus Bewohnern des Hauses) und Küche fest im Griff. “Wer sich bewährt und schnell ist, darf bleiben.” Ein paar Leute kochen, ein paar Leute putzen, den ganzen Vormittag. Hier bleibt kein Dreck liegen, hier ist nichts unhygienisch. Sogar die Türen, Wände werden jeden Tag abgewaschen. Als erstes putze ich mit einer kleinen, stillen, sehr freundlichen Frau Gemüse, vor allem Jungzwiebel, Gurken. Geschnitten wird es anschließend von zwei Männern, die hier offenbar seit Jahren Gemüse schneiden, sprich: sagenhaft schnell sind. Die Gemüse- und Kartoffelberge sind fast so eindrucksvoll wie die Kochtöpfe, Kinderbadewannen, die um 09:30 Uhr schon voll gefüllt sind und in denen es kocht, köchelt, sprudelt. Wer hier umrühren will, muss kräftig sein. Didi ist kräftig. Alle Fenster und Türen sind offen. Es ist angenehm. Keine Spur so heiß, wie ich es erwartet habe. Nach dem Gemüseputzen schickt Didi mich mit der kleinen, stillen Frau Türen putzen. Bin ich dafür von Österreich nach Rumänien geflogen? Wir teilen uns einen Topf mit Wasser und eine Cif-Flasche. Nach dem Türenputzen bekomme ich zwei gekochte Hühner zugeteilt, ich soll die Knochen herausnehmen. Nur die Knochen und Knorpel, erklärt er mir, als ich auch die Haut auf die Seite lege, alles andere wird verwertet. „Wir müssen hier aus wenig viel machen.“ Das sehe ich ein, das gefällt mir. Also nur die Knochen und Knorpel heraus. Als Nächstes helfe ich Stefan, einem netten, freundlichen Typ beim Tischdecken. Er darf demnächst wieder auf “die Farm” übersiedeln, erzählt er mir später (ich weiß von dieser Farm nur soviel, dass sie eine Autostunde von Bukarest entfernt liegt, dass es dort Wohnhäuser, eine Landwirtschaft, eine Bäckerei, Werkstätten gibt), er sei schon auf der Farm gewesen und hätte dort auch schon eine Berufsausbildung gemacht, aber dann hätte er bei einem Besuch mit Ruth Zenkert in Wien einen großen Fehler gemacht und deshalb sei er jetzt wieder hier. Er freut sich schon sehr von hier fortzukommen. „Ich will die Straße nicht mehr. Diesmal muss es klappen.“ Auch Constantin und John gestern haben von dieser Farm erzählt und dass sie nächste Woche dorthin kommen und wer dort in welchem Bereich arbeiten wird. Muss eine tolle Sache sein. Ich bin schon sehr neugierig, werde sie ja am Wochenende sehen, vielleicht auch „die Stadt der Kinder“ (sie ist in Ploiesti, wie weit das von Bukarest entfernt ist, weiß ich nicht, auch nicht, ob die Kinder dort nur wohnen oder ob es dort auch Ausbildungsmöglichkeiten gibt). 

Mittagessen. Kartoffelauflauf mit Wurst, vorher Suppe, Suppe ausgezeichnet, Auflauf viel zu viel. Ich schiebe den halbvollen Teller weg. Ein Educator, der am Nebentisch sitzt (ein Rumäne, der gut Deutsch spricht), spricht mich an, deutet auf meinen Teller, schüttelt den Kopf. „Bitte aufessen. Alle hier müssen aufessen, was sie am Teller haben, Sie bitte auch. Wir erklären diese Vorschrift den Leuten so, dass es hier so viele Menschen gibt, die nichts zu essen haben, also müssen wir hier mit dem Essen sorgfältig umgehen. Wer weniger essen will, nimmt sich eine kleinere Portion.“ Eine Schrecksekunde, zwei Sekunden Zorn („Was bildet sich der eigentlich ein?“), dann nicke ich, nehme die Gabel. Er hat Recht. Man hätte mir das zwar vorher sagen können, dann hätte ich auf einer kleineren Portion bestanden, aber bitte. Es ist mühsam gegen die Hitze anzuessen und mein Magen verzeiht es mir den ganzen Tag nicht. Nach dem Essen Tische abräumen. Küchendienst für heute beendet.

Nächster Programmpunkt Gartenarbeit. Bei der Affenhitze. Ich bin ziemlich grantig. Da man uns kein Werkzeug zur Verfügung stellt und ich meine Aufgabe hier nicht darin sehe, verwilderte Blumenbeete mit den Händen umzugraben, sehe ich diesen Programmpunkt nach einer Viertelstunde für mich als erledigt an. Setze mich zu den Leuten. Die Frage, die mir am öftesten gestellt wird: „Wie alt bist du?“ Die Volontäre, die hier mitarbeiten, sind durch die Bank ganz jung. Die meisten haben die Matura hinter sich oder die Schule und legen ein soziales Jahr ein, bevor sie auf die Uni gehen oder zu arbeiten anfangen. In meinem Alter haben die Leute etwas anderes zu tun, als nach Rumänien zu fahren und unentgeltlich in einem Straßenkinderprojekt mitzuarbeiten. Es dauert nicht lange und ich schaffe die Antwort auf die Frage auf Rumänisch: cinzeci si patru (54). Dann meistens ein Daumen, der nach oben geht und ein anerkennendes Nicken. Ich höre ihnen zu, schaue sie an, versuche ein bisschen etwas zu verstehen. Sie geben sich alle Mühe sich mir verständlich zu machen. Jeder von ihnen ist ein Unikat. Zwei junge, ziemlich hübsche, eigenwillige Frauen frage ich, ob sie nicht lieber im Juda wohnen und leben würden als hier. Um Himmels Willen nein. Da verbringen sie lieber den Tag auf der Straße. Ich muss lachen. Ich verstehe sie. Im Juda ist es so still, leer. Dort herrscht der Gehorsam, die Pflicht. Die jungen Leute dort werden gefördert, an der Hand genommen, keine Frage, aber sie müssen parieren. Oder zurück auf die Straße. Hier im Laza gibt es auch Regeln, aber es ist auch noch Platz für Eigensinn, Individualität, Widerstand. Armut auch. Das ist der Preis. Wie soll ich diese Unikate ab Herbst maßregeln? Ich will ihnen zuhören, sie verstehen, ich will keine Punkte verteilen oder streichen. Ich verstehe, dass sie nicht in die Kapelle wollen, ich will auch nicht in die Kapelle. Ich will sie nicht zum Funktionieren bringen, ich funktioniere selbst nicht, habe es selbst mein Leben lang versucht, aber es funktioniert nicht, dass ich funktioniere, ich kann mich nicht aufgeben, keine andere sein, als die, die ich bin. Wie kann ich es von anderen verlangen? Diese Menschen sind mir viel näher als ihre Erzieher. Ich will aus ihnen nichts machen, was sie nicht jetzt schon sind. Ich mag sie, wie sie sind. Ich fürchte, für jemand wie mich ist im Concordia-Programm kein Punkt vorgesehen. 

Im Aufenthaltsraum der Volontäre wird diskutiert. Auch über Pater Sporschill. Er sei keiner, mit dem man diskutieren könne, erzählt einer von ihnen. Man könne mit ihm reden, aber nicht diskutieren. Er lässt keine andere Meinung gelten als seine, ihn habe er einmal angebrüllt, dass ihn nicht interessiere, was er zu sagen hätte. Vielleicht wird man nach zwanzig Jahren Straßenarbeit so. Ein Zivildiener, der seit 9 Monaten bei Concordia in Bulgarien mitarbeitet und jetzt ein paar Tage hier ist um sich die Concordia-Einrichtungen in Rumänien anzuschauen, erzählt, dass es in Sophia anders sei, freier, dass es auch keine Rolle spiele, ob er an der Andacht teilnehme und wenn er teilnimmt, ob er mitsingt und -betet oder nicht. “Ich habe noch nie so einen weltlichen Priester gesehen wie unseren in Sophia.” Ich habe Kopfweh. Die Hitze. Eine Tablette. Schlecht ist mir auch von dem Berg Kartoffelauflauf. Um 17 Uhr marschiere ich Richtung Juda. Um 18 Uhr große Messe. Vorher eine zweite Tablette.

So groß ist die Messe nicht. Die Kapelle ist voll. Das ist alles. Heute gibt es wirklich viele Kinder hier. Er predigt nicht einmal, sagt nichts zum Evangelium, das überlässt er Fabian. Aber Moise hat er mitgebracht. Der kleine Mann steht die ganze Zeit neben ihm. Stolz. Ist sein besonderer Schützling. Beim Hinausgehen gibt er mir (als dem wahrscheinlich einzig fremden, noch dazu ungewohnt alten Gesicht in der Menge und unmittelbar neben der Tür) die Hand. Mir ist immer noch schlecht und der Kopf ist nach der zweiten Tablette ziemlich dumpf.

Beim Abendessen im Garten sitze ich an einem 100% rumänisch-sprachigen Tisch, drei oder vier Kinder, zwei Erzieherinnen, die Kinder blitzblank und brav (ein kleiner Bub plagt sich schrecklich seinen Teller leer zu kriegen), die große Gesellschaft löst sich bald auf, die Kinder müssen ins Bett. Ich bin drauf und dran morgen meine Reisetasche zu packen und mir ein Zimmer in Bukarest zu suchen. Ich sehe hier keinen Platz für mich. Und die Heiligenscheine gehen mir unendlich auf die Nerven. Wenn ich daran denke, dass ich morgen in der Früh wieder in der Andacht sitzen soll …

Am Weg ins Bett fängt mich eine junge Frau ab, sie wohnt hier im Haus, wir sitzen lange zusammen, zuerst am Gang, dann bei ihr im Zimmer, ich höre ihr einfach nur zu, es ist, als würde ich mit mir selbst reden, wir haben die gleichen Ansichten, ich kann ihr nur zustimmen, auch ich wäre nicht zufrieden hier, viele sind nicht zufrieden hier, erzählt sie, leiden unter der Zwangsbeglückung, aber sie haben keine Alternative. Sie sagt, wenn sie ihren Job verliert, muss sie nicht nur dieses Haus verlassen, sie darf dann auch nicht mehr ins Laza. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ich hoffe, sie hat gelogen. (Die Leute lügen viel hier, höre ich hier immer wieder.) Aber selbst, wenn sie nicht gelogen hat, ist das hier ihre einzige Chance, wenn sie von der Straße weg will, und es ist nicht nur ihre einzige, es ist eine riesige Chance, das wird mir bei diesem Gespräch klar und das sage ich ihr auch. Die jungen Menschen leiden zwar unter dieser strengen Ordnung, aber wenn sie die Zähne zusammenbeißen, können sie hier jede Hilfe bekommen, die sie brauchen um irgendwann auf eigenen Füßen zu stehen und dann ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihm die Ordnung zu geben, die sie wollen und für gut halten. Denn bei allen Regeln, bei aller Strenge, bei allem Händefalten und Beten, die jungen Menschen werden hier gefördert, bekommen hier Chancen, die andere kaum haben, sie bekommen eine Ausbildung, man nimmt sie an der Hand und geht mit ihnen Job suchen, als Gegenleistung müssen sie funktionieren, alle, die in dieser Gemeinschaft leben, müssen nach ihren Regeln funktionieren, dann sind sie gut aufgehoben, sonst müssen sie wieder gehen. Es dürfte hier sehr hart gehandhabte Grenzen geben, wann wer von welcher Stufe in welche Stufe darf und wann er ins Bodenlose fällt, sprich: wieder auf die Straße muss, trotzdem ist und bleibt die Chance für jeden Einzelnen eine riesige, die er, wenn es ihm irgendwie möglich ist, unbedingt nutzen sollte.

Noch eine Weile allein auf der Dachterrasse. Traumhafter Blick über die Lichter von Bukarest. Unter die Dusche. Morgen muss ich mir unbedingt Obst kaufen. 10 kg Pfirsiche. Es gibt da so einen winzigen Laden.

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