Tag 3 (17. Juni 2010)

06:45 Uhr. Wie gestern. Noch niemand da. Nur der winzige schwarze Hund kommt angerannt, als ich vors Haus trete. Er ist ganz jung, zugelaufen, wird hier gefüttert, irgendwann wird man ihn auch impfen lassen, ins Haus darf er nicht. Er ist ganz lieb, aber er hat fürchterlich scharfe Zähne. Und zack: Blut rinnt. Gleich zweimal. Hier ist das Ungetüm.

 

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Um 7 Uhr tröpfeln ein paar müde Gesichter aus der Tür. Morgensport ist bei den jungen Leuten hier nicht unbedingt der Renner. Heute steht Aerobic am Programm. Lauter Übungen mit Kopf nach unten. Die lasse ich lieber sein. Mein Kopf ist noch immer nicht ganz in Ordnung. Ich gehe mich duschen und Stefanie verarztet mich liebevoll mit Betaisadonna und zwei Pflastern.

07:45 Uhr. Kapelle. Pater Sporschill ist offenbar schon wieder weg. Ich sehe ihn zumindest bis zu meiner Abreise nicht mehr. Im Evangelium geht es heute darum, dass man seine Frömmigkeit nicht zur Schau stellen soll, man soll vielmehr still in seinem Kämmerlein beten. Wenn Jesus das so sagt, warum müssen wir hier sitzen? (Wegen der Gemeinschaft, ich weiß schon …) Es heißt in diesem Evangelium auch, man soll das Gute, das man tut, nicht ausposaunen, zur Schau stellen, man soll es unbemerkt tun. Das heißt, wir sollten jetzt hinausgehen und das protzige Plakat des Stiftes Klosterneuburg von der Wand nehmen. Wieso passiert das alles nicht? Kann es sein, dass man Worte nicht mehr hört, wenn man sie zu oft hört? So wie man den Lärm der Straßenbahn vor dem Fenster irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Kirche genau das geworden ist, wogegen Jesus vor gut 2000 Jahren angetreten ist. Fürbitten. Den netten Zivi aus Sofia stört offenbar das gleiche wie mich. Er wünscht sich Glaubensfreiheit. Ich wünsche mir das auch und dass niemandem ein Nachteil daraus entsteht, ob und wie er (s)einen Glauben ausübt.

08:30 Uhr. Frühstück. Heute gibt es zusätzlich Tomaten. Das ist super bei der Hitze. Ruth Zenkert fragt mich, ob sich meine Bitte in der Kapelle auf Concordia bezogen hat. Meine Bitte schließt alle ein, warum nicht auch Concordia? Ich frage sie, ob es in den Suppenküchen von Moldawien auch zweimal am Tag eine Andacht gibt. Nein. Weil die Leute nicht dort bleiben. Sie kommen nur zum Essen oder das Essen wird ihnen gebracht. Vielleicht sollte ich nach Moldawien gehen. In eine Suppenküche.

Mein Programm für heute ist unschwer zu erraten: Küchendienst im Laza. Es wird Zeit, dass ich die Sache selber in die Hand nehme. Ich will das Straßenkinderprojekt von Concordia in Rumänien kennenlernen. Deshalb bin ich von Österreich hierhergekommen.

Im Laza gehe ich sofort zu Marius (Leiter) und frage, ob ich beim Streetworking mitgehen darf. Ich möchte mir die Arbeit auf der Straße anschauen und ich möchte sehen, woher die Menschen kommen, die hier im Laza sind, damit ich sie besser verstehe und besser auf sie eingehen kann. Marius reagiert genauso, wie ich es von ihm erwartet habe. Er schaut mich an, ernsthaft, dann lacht er sein ungeheuer herzliches Lächeln, nickt. „Warum nicht. Wenn du das willst. Morgen geht Joachim am Vormittag auf die Straße. Rede mit ihm.“ Ich rede mit ihm. Wir werden zu dritt sein. Joachim, eine Frau von der Straße, die im Laza wohnt, und ich. Start 9:30 Uhr. Ziel: Gara de Nord. „Wir schenken dort Tee aus und reden mit den Leuten.“ Gut. Ich marschiere in die Küche, melde mich zum Dienst, zeige Didi meine Hundebisse, bitte um einen Handschuh. „Wenn du heute mit Handschuhen arbeitest - kannst du das Abwaschen der Wände mit Chlor übernehmen?“ „Selbstverständlich.“

Heute gehöre ich schon zur Küchenmannschaft dazu. Auch die kleine, stille Frau lächelt mich freundlich an und irgendwie schaffen wir es ein bisschen miteinander zu reden, putin (mit einem s unter dem t), ein bisschen, ein wenig. Ich glaube, sie will mir sagen, dass sie ein oder zwei Kinder hat, die aber nicht hier bei ihr sind, die entweder in einem staatlichen oder in einem Concordia-Heim sind, aber ich bin mir nicht sicher. Sie putzt, wie schon gestern, die Türen, dann die Fenster. Ich putze die Wände. Erstaunlich. Sie werden wirklich wieder weiß. Ich habe noch nie mit Chlor gearbeitet. Nach einer halben Stunde habe ich meine Hose ruiniert. Macht nichts. Das gehört auch dazu. Ich wische und wasche weiter, es ist wie eine Meditation. Zwischendurch bringt mir ein freundlicher Mann einen Apfel, später bekomme ich eine Limonade, als ich fertig bin, nimmt mir Didi die Handschuhe ab, sitzt lang mit mir auf der Bank vor der Küche im Schatten. Pfefferminztee mit Eiswürfel. Nett ist es. Jeder einzelne aus der Küchenmannschaft ist nett. Freundlich. Liebenswert. Ich bin gut eingepackt in der Gemeinschaft hier. 

Vor dem Mittagessen husche ich noch schnell ins Laza-Art um mir die Stühle anzuschauen, die Michael seit ein paar Tagen mit den Leuten bastelt. Sie bestehen aus lauter Papierlagen, die übereinander geklebt werden, irgendwann in den nächsten Wochen soll man darauf sitzen können. An den Wänden viele Zeichnungen. Fast alle wie Kinderzeichnungen. Im ersten Moment bin ich erstaunt, aber dann denke ich: Ich würde auch nichts anderes zustande bringen. Eine der jungen Frauen knüpft mit einem Irrsinnstempo aus verschiedenfärbigen Wollfäden ein Armband für Johannes, den Zivildiener aus Bulgarien. Eine andere Frau strickt einen leuchtendblauen Pullover für ihre kleine Stoffpuppe. Sie strickt den ganzen Tag, dann ist sie fertig. Zeigt stolz ihr Baby.  

Mittagessen. Wieder eine supergute Suppe. Dann wird Salz und Pfeffer abgeräumt. Warum? „Weil es jetzt süß weitergeht.“ Makkaroni cu branza, ein Nudelauflauf mit Käse, Zucker, Zimt. Hervorragend.

Nach dem Essen sitze ich lange bei einem jungen Mann im Garten. Er ist mit Rucksack und Wolldecke hier. Den ganzen Vormittag sitzt er schon hier auf der Bank. Er wartet, hofft, dass man ihn wieder aufnimmt. Er hat Hausverbot, weil er aggressiv geworden ist, er wollte nicht am Programm teilnehmen oder hat nicht am Programm teilgenommen, auf jeden Fall ist es vor oder im Speisesaal zu einer Auseinandersetzung mit einem Volontär gekommen, der ihn nicht hineinlassen wollte, er ist ausgerastet, hat einen Teller gepackt und ihm an den Kopf geworfen. Vielleicht hat er auch ein viel größeres Verbrechen begangen. Das ist das, was er mir erzählt hat. Ob er eine Matte hat zum darauf Schlafen, frage ich. Er deutet auf einen zerfledderten Pappendeckel, der neben der Bank lehnt. Heute hat er hier im Garten geschlafen, im hinteren Teil. Er will nicht mehr auf die Straße zu den andern am Gara de Nord. „Dort trinke ich viel zu viel. Und dann tue ich Dinge, die ich nicht tun will.“ Ergeben sitzt er da. Schlank, groß, ernst. Er hat fest vor hier auszuharren, bis man ihm die Tür wieder öffnet, sprich: ihn wieder aufnimmt. Er ist keine Spur zornig. Schimpft über niemand, macht niemandem einen Vorwurf. Er hat hier zu warten. Das weiß er und das tut er. Wenn es sein muss, Tage, Wochen. Eine Frau, die auch hier wohnt, kommt und drückt ihm etwas in die Hand. Eine Serviette mit einem Stück Makkaroniauflauf. Er nickt danke, isst ganz langsam. Er ist ein bisschen krank, sagt er.

Am Nachmittag möchte ich Michael beim Handtücherausteilen helfen. Heute können die Leute von der Straße zum Duschen und Kleiderausfassen kommen. Nach einer halben Stunde mehr oder weniger beschäftigungslosem Herumsitzen (weil in dieser Zeit so gut wie niemand zum Duschen kommt) gehe ich in den Garten und mache beim Kanaldeckel-Bemalen mit. Hier der Kanaldeckel, an dem wir zu viert gewerkt haben.

 

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Und hier zwei der Künstlerinnen: die blonde Daniela, eine liebe junge Frau aus Deutschland, die diese Kanaldeckel-Bemalungsaktion überhat (sie macht ein dreimonatiges Praktikum hier) und eine junge Frau, die im Laza wohnt (den Namen habe ich vergessen, es ist eine Schande, ich weiß) und mitmalt.

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Am späten Nachmittag ergattere ich einen Platz am Laptop und schreibe ein langes Mail nach Österreich, lauter wirres Zeug, das meinem verwirrten Innenleben entspricht. Gestern war ich drauf und dran zu gehen, heute bin ich drauf und dran zu bleiben, ich weiß nur nicht, wie … und vor lauter Mail schreiben versäume ich die halbe Andacht. Bekomme trotzdem anstandslos ein gutes Abendessen. Dann das Programm für heute Abend: etwas Discoähnliches im Juda.

Die erste Gruppe marschiert bald nach dem Essen Richtung Juda, ich bleibe noch eine Weile im Laza im Garten, es ist so schön jetzt im Freien. Ein paar Gesichter, die ich noch nicht kenne, ein mächtiger, dunkler Mann kommt auf mich zu, ich weiß nicht, ob er so braun oder so dreckig ist, er streckt mir die Hand entgegen, etwas in mir sträubt sich entsetzlich, ich gebe ihm meine und bleibe fast picken. Er kommt jetzt auch ins Laza, sagt jemand. Ich gehe mir die Hände waschen.

Nach einer Weile kommt die Disco-Gruppe wieder zurück, viel größer jetzt, weil viele Juda-Leute dabei sind, weil das Programm umgestellt wurde, die Veranstaltung findet jetzt hier im Laza im Turnsaal statt. Eine Stunde später steht fest, sie findet weder im Juda noch im Laza statt, etwas ist kaputt. Ich beschließe Richtung Heimat bzw. Bett (also Juda) aufzubrechen. “Nein, du darfst nicht allein gehen, das ist jetzt zu gefährlich!” Eine junge Frau, die im Juda wohnt, ich glaube, sie heißt auch Daniela, hält mich an der Gartentür auf. “Warte!” Zwei Minuten später habe ich einen Bodyguard. Beatbox. 24 Jahre alt, trommelt, spielt Keyboard, ist durch und durch musikbesessen, wohnt im Juda, trägt mit Vorliebe hellgrün gestreifte Brillen, die ihm jemand aus Deutschland mitgebracht hat („5 Euro!“), ist ein ausgezeichneter Inlineskater, hat eine riesige Blase am rechten Zeigefinger und wird mir in den nächsten Tagen noch fürchterlich ans Herz wachsen.  

Die Gassen sind am Abend belebter als untertags, hier und da am Randstein ein Feuer. Zigeuner, sagt Beatbox. Er wedelt mit/auf seinen Inlineskaters vor mir her (superenge Schwünge, würde er Schifahren lernen wollen, würde er dazu nicht länger als eine Woche brauchen), bleibt stehen, dreht um, kommt zurück, trappelt/trippelt langsam neben mir her auf seinen Sportgeräten. Es gefällt mir hier. Ich würde sehr gern im September wiederkommen. Ich mag die Menschen hier, das Land, Bukarest. Sogar die streunenden Hunde. Michael hat erzählt, es sei ein bisschen unheimlich, wenn man in dieser Gegend in der Nacht allein unterwegs ist, weil einem immer ein Rudel Hunde folgt, das langsam immer näher kommt. Er bleibt dann immer wieder stehen, dreht sich um, dann weichen die Tiere zurück, dann geht er wieder ein Stück, dann dreht er sich wieder um … Beatbox hat seine eigene Art die Hunde auf Diszanz zu halten. Er gibt eine Tonfolge von sich, die mich an das Jaulen eines Hundes erinnert, dem gerade jemand auf den Schwanz tritt. Die Hunde offenbar auch. Auf der befahrenen Hautptstraße ohne Gehsteig schupft er mich von der Fahrbahn weg, geht - Kavalier, der er ist - auf der den Autos zugewandten Seite, im Juda angekommen, öffnet er mir die Tür, lässt mich vorgehen. Ich denke an die jungen Leute in Wien.

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