Tag 4 (18. Juni 2010)

Morgensport heute fein, überraschend kurz. 07:00 Uhr bis 07:15 Uhr auf der Dachterrasse ein paar Runden laufen, dann Dehnungsübungen. Warum so kurz, erfahre ich, als ich nach einer ausgiebigen (weil ja so viel Zeit ist) Dusche um 07:45 Uhr vor der leeren Kapelle stehe. Ulrike, die in der Küche das Frühstück vorbereitet, klärt mich auf. Heute ist Freitag und am Freitag findet die Morgenandacht im Laza statt, am Dienstag ist es umgekehrt, da kommen die Lazaleute zur Andacht ins Juda. Also packe ich meine Sachen für den Tag und marschiere Richtung Laza. Die Kapelle gerammelt voll. Wer sitzt an den Trommeln? Der mächtige dunkle Mann von gestern Abend und trommelt die singenden Heerscharen in Grund und Boden. Super. Der Rhythmus geht in die Knochen. So gefällt es mir hier. Weiter so!

Da wir um 09:30 Uhr von hier aus zum Gara de Nord starten (Streetwork), bleibe ich am besten gleich hier, frühstücke hier mit. Ich bitte daher eine Mitarbeiterin von Fabian (er ist nicht in die Morgenandacht ins Laza gekommen) ihm auszurichten, dass ich hier im Laza bin und mit Joachim auf die Straße gehe und dass das mit Marius, dem Leiter des Laza, abgesprochen ist. „Muss ich mit Fabian telefonieren.“ Sie huscht davon, kommt zurück. „Du sollst bitte ins Juda kommen. Fabian hat ein anderes Programm für dich.“

Zehn Minuten später Fabian zu mir: „Du wirst in den nächsten Tagen hier im Juda mithelfen. Auf die Straße gehen steht nicht am Programm.“

Der Kommunismus muss den Rumänen noch in allen Gliedern sitzen. Ich habe mir das im (zum Glück nur sechs Abende dauernden) Rumänisch-Kurs an der VHS schon gedacht. Die Vortragende war eine Rumänin, Alter zwischen 40 und 50. Nicht links schauen, nicht rechts schauen, um Gottes Willen nur ja keine Zwischenfragen, das Programm herunternuscheln und dann nach Hause gehen. Eine junge Polin, die mit mir die Kursbank gedrückt hat, hat diese Vermutung bestätigt. „Ja, bei uns im alten Ostblock ist das noch so. Ich kenne auch aus Polen nichts anderes. Auswendig lernen, was man vorgesetzt bekommt, nichts sagen, nichts fragen, ob man es versteht oder nicht, ist nicht wichtig, man hat es zu lernen. Punkt.“

Ich bin in einer westlichen Demokratie aufgewachsen, dementsprechend ratlos, ungläubig mein Gesichtsausdruck. Nach einer kleinen Pause fragt er mich, was ich mir von diesem Mitgehen erwarte, ob ich mir die Leute am Gara de Nord wie Tiere im Tiergarten anschauen will. Manche Dinge, die einem widerfahren, sind derart unglaublich, Worte, die einem ins Gesicht geknallt werden, derart unverschämt, dass das Hirn nicht schnell genug ist oder sich weigert sie unmittelbar ins Bewusstsein zu lassen. Soll heißen, ich stehe nicht auf und gehe, ich sage nicht einmal „du Arschloch“, ich denke es mir nicht einmal, ich versuche diesem Programmvollzugsautomaten klarzumachen, dass es für mich ganz wichtig ist zu sehen, wo die Menschen herkommen, mit denen ich im Laza zu tun habe, damit ich verstehe, warum sie sind, wie sie sind und sich verhalten, wie sie sich verhalten und ich so besser auf sie eingehen kann und dass Marius ausdrücklich zugestimmt hat, dass ich Joachim heute begleite. Daraufhin meint er, dass Marius dem nie zustimmen hätte dürfen, weil es am Gara de Nord viel zu gefährlich sei für mich, weil Joachim zu wenig Erfahrung habe und mich nicht schützen könne, er könne nur laufen, wenn es gefährlich wird, mich schützen könne nur der und der (Name vergessen, offenbar der Oberstreetworker hier), weil die Leute in den Kanälen ihn schon jahrelang kennen und er weiß, wie man mit ihnen umgeht und dieser der und der sei heute nicht da, und dass man ohne seine Begleitung in den Kanälen ausgeraubt würde, dass Eintritt von einem verlangt würde, dass Concordia die Verantwortung für mich trage …  außerdem könne ich ohne Rumänischkenntnisse ohnehin nichts ausrichten, ich könne nicht einmal mit den Leuten reden.

Ich frage, ob er realisiert hat, dass ich über fünfzig, also schon seit ein paar Jahren volljährig bin, zu 100% freiwillig hier bin und die volle Verantwortung für das trage, was ich hier tue. Ich bin jetzt ziemlich zornig. Der Mann hält mich offenbar für grenzdebil. Ich habe nicht erwartet, dass wir heute in die Kanäle steigen und Joachim hat mir das auch bestätigt, dass er das nicht tut, weil er dafür viel zu wenig Erfahrung hat, er teilt nur Tee aus, wenn er allein unterwegs ist, und redet ein bisschen mit den Leuten und das alles macht er zu ebener Erde und im hellen Tageslicht. Ich weiß nicht, ob Fabian das nicht weiß. Ich weiß auch nicht, ob er nicht weiß, dass viele ein bisschen Deutsch oder Englisch sprechen und dass es in dieser Woche, die ich jetzt da bin, nicht darum geht, dass/ob ich etwas „ausrichte“.

Ich brauche nicht unbedingt Rumänischkenntnisse um mit den „Straßenkindern“ in Kontakt zu treten, das ist die überaus positive Überraschung dieser wenigen Tage in Bukarest, aber 100 Jahre Rumänischkenntnisse würden nicht ausreichen um zwischen Concordia und mir eine Verbindung herzustellen, das ist das traurige Ergebnis. 

Fabian spult ungerührt seinen Text herunter, ein Tonband würde das gleiche tun: „Ich empfehle dir nicht mit Joachim mitzugehen. Wenn du im September kommst, steht nach ein paar Wochen Rumänisch lernen ohnehin ein Tag Straße am Programm. Außerdem wirst du heute hier im Juda in der Küche dringend gebraucht, ich habe schon gesagt, dass du kommst.“

Natürlich werde ich in der Küche nicht dringend gebraucht. Aber Programm ist Programm, das weiß auch Violetta (die Köchin) und wenn sie mir die Zwiebeln zum schneiden geben muss, weil ich frage, was ich tun soll, steht der Junge, der für diese Hilfsdienste abgestellt ist, arbeitslos daneben. Zorn, Enttäuschung, Wut. Sie geben sich wirklich alle Mühe. Aber ich muss noch weiter hinunter, weil ich es immer noch nicht anfassen kann, will, ich weigere mich es zu begreifen, wie die dreckige Hand des Mannes gestern, es kann nicht sein, was hier passiert, dass Menschen im Namen der Nächstenliebe auf ein Stück Material reduziert werden, als willenlose Arbeitskraft zu funktionieren, parieren oder zu verschwinden haben. Als das blonde Bummelchen gar nichts mehr mit mir anzufangen weiß, meint sie, ich soll den winzigen Küchenraum putzen, während der Junge und sie kochen.

Concordia hat mich überstanden. Fabian muss sich im Herbst nicht mit mir plagen. Am Abend machen wir es zu dritt fix. Fabian: „Ich will nur sichergehen, dass ich dich richtig verstanden habe.“ So kann man es auch machen. Man behandelt Menschen wie unmündige Kinder, bis sie es entweder geworden oder gegangen sind. Auf diese Weise muss man sie nicht vor die Tür setzen, ganz im Gegenteil, man kann ihnen immer und ewig freundlich die Hand entgegenstrecken, dass sie keinen Platz für ihren Fuß finden, ist ihre Sache.

Als der Zorn nachlässt, fängt es an wehzutun, jede Stunde ein bisschen mehr, wie wenn die Wirkung einer Schmerztablette langsam zurückgeht. Ich würde sehr gern, wirklich sehr, sehr gern mit den „Straßenkindern“ hier leben und arbeiten. Ich würde sie nicht zum Arbeiten bringen wollen, ich würde mit ihnen zusammen arbeiten wollen, ich würde sie nicht erziehen wollen, insofern hat Fabian völlig recht, wenn er mich mit seinem stumpfsinnigen Programmvollziehungsgehabe hinausekelt, ich wäre für Concordia wahrscheinlich nutzlos, möglicherweise kontraproduktiv (gemessen an dem, was diese Institution als Produkt anstrebt). Ich würde kein Produkt, kein Bataillon anstreben, ich würde die Menschen nehmen, annehmen, wie sie sind und versuchen, dass ich sie und sie mich verstehen. Ich würde den Herrgott nicht in den Himmel verbannen. Sprich: 100% untragbar.

Mein Vorsatz: die wenigen Tage, die mir hier bleiben, so bewusst wie möglich leben.

Nachmittag Garten. Unkrautjäten mit Beatbox. Das steht auf seinem Programm. Ein Kübel für das Unkraut, zwei Krallen. Die Blase auf seinem rechten Zeigefinger steht nicht am Programm, sie reicht trotzdem von der Fingerspitze über die gesamte Innenseite des Fingers bis über das zweite Gelenk zurück, sie ist offen, eine hauchdünne Hautschicht wie eine Klarsichtfolie über dem dunkelroten Gewebe. Das heißt, zuallererst muss ich einen Handschuh organisieren, Stefanie suchen, eine dicke Schicht Betaisadonna-Gel und ein riesiges Pflaster. Jetzt ist der Finger stocksteif. Jetzt gehen wir jäten. Ein bisschen. Wenig. Putin (mit s unter dem t). DAS Wort zwischen uns. Ich kann so gut wie nicht Rumänisch, er spricht kein Wort Deutsch, Englisch ganz wenig. Putin! Putin!

Über seine Vergangenheit weiß ich nichts. Nur dass er sechs Jahre in die Schule gegangen ist. Er kann oder will nicht schreiben (er sagt, seine Handschrift sei so hässlich) und weigert sich einer geregelten Arbeit nachzugehen (hat man mir erzählt). Er verdiene sein Geld mit Handygeschäften. „Er stielt nicht, aber er gewinnt immer.” Was immer das heißt.  Sein Name ist Florin. Müsste ich ihn mit einem Wort beschreiben, wäre es MUSIK. Keyboard. Trommeln. Aber in erster Linie und 80% vom Tag ist er Beatbox. Er braucht kein Instrument, er ist sein eigenes. Nicht nur eines. Florin ist ein Orchester. Ich habe so etwas noch nie gesehen, gehört, finde es faszinierend, was Menschen aus sich herausholen können, ohne irgendein Hilfsmittel. Die Musik kommt ihm im wahrsten Sinn des Wortes aus fast jeder Körperöffnung. „Er ist verrückt“, habe ich nicht nur einmal gehört. Vielleicht mag ich ihn deshalb so gern. Hier ist er:

 

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Am späten Nachmittag ist Gartenspritzen an der Reihe. Und Georgeta. Ein Roma-Mädchen. 22 Jahre alt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war ich mir einen Moment nicht sicher, ist sie ein Bursche oder ein Mädchen. Sie spricht sehr gut Deutsch, auch Englisch. Aber wenn sie etwas nicht hören oder über etwas nicht reden will, versteht sie von einer Sekunde auf die andere kein Wort mehr. Sprich: Sie ist eigenwillig, schwierig, hat eine angenehm tiefe Stimme. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, ich werde sie hier nicht ausbreiten. Zur Zeit arbeitet sie beim Billa, muss um halb fünf aufstehen, das ist das Allerschwierigste, sagt sie, morgen und übermorgen (Samstag und Sonntag) arbeitet sie durch, jeden Tag bis 10 Uhr am Abend. Dafür hat sie die ganze nächste Woche frei. Wir machen uns aus: Am Montag gehen wir gleich nach dem Frühstück gemeinsam in die Stadt. Den Garten spritzt sie so, wie sie ist: recht eigenwillig, sie bleibt oft stehen, schaut in den Sprühregen, ersäuft die eine Staude, vergisst dafür die nächste und die übernächste, gießt Zaunpfosten, richtet den Wasserstrahl in den Himmel, lacht. Sie hat ungemein viel Traurigkeit in sich, glaube ich. Hier ist sie:

 

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Am Abend sitzen wir zu dritt in der Kapelle. Beatbox zeigt mir seine Musik, was er mit dem Keyboard alles machen kann.

Im Bett kommen dann endlich die Tränen. Bäche.

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