BEGIN

72 Fenster. 16 schauen auf die Währinger Straße, 56 auf die Lackierergasse. Mit Scheiben, ohne Scheiben, mit Löchern in den Scheiben, zum Teil von innen mit Brettern vernagelt, manche zwischen den äußeren und inneren Scheiben vergittert, die Bretter und Gitter bemerkt man aber nur, wenn die Scheiben Löcher haben oder fehlen, weil sie so dreckig sind, ausschauen wie verschlissene Vorhänge aus Milchkaffee in wunderschönen, aber irreparabel verfallenen Holzrahmen, die fast das gleiche dunkle Braun haben wie die Mauern der beiden Obergeschoße. Zu ebener Erde ist vieles anders, die Mauer ein graues Weiß, zur Währinger Straße hin ein abgrundtief hässliches Plastikglasportal der gewesene Eingang in ein gewesenes Geschäft, anschließend und um die Ecke in die Lackierergasse acht Fenster in lila Plastikrahmen in lila Fensterrahmen, die Mauerrahmen rund um die lila Fensterrahmen rosarot, über den Fenstern in der Mauer zweimal der Schriftzug KINDERWAGEN, zweimal elf leere Buchstabenbetten, einmal an der Front Währinger Straße, einmal an der Front Lackierergasse. Die restlichen 16 Fenster und drei Türen im Erdgeschoß Lackierergasse wieder von der alten Sorte, verfallen aber zum Umfallen schön, auf eine zersplitterte Fensterscheibe hat ein mutiger Finger You will be good! geschrieben, die Tür daneben hinter einem rostigen Rollladen, das anschließende Fenster mit einem silbernen Klebeband zugeklebt, ein paar Fenster weiter eine vollgeschriebene und -geschmierte Tür, auf dieser Tür ein Plakat, ein Foto, das protestierende Studenten und stehende und fallende Absperrungen zeigt und über dem Foto die Wortfolge THE SECRET IS TO REALLY und darunter doppelt so groß BEGIN, nicht weit von dem BEGIN die kleine Türschnalle aus Messing, in einem ausgebohrten Loch darunter das Schloss. Ich stehe vor meinem Buchcover, noch bevor ich einen Buchstaben geschrieben habe, denke ich, und vor dem Satz des Jahres 2011. Tunesien. Ägypten. Es funktioniert. Es wird auch bei uns funktionieren, wenn wir es tun: really begin. Der Tharir-Platz ist überall. Ein junger Mann mit einer Scheibtruhe kommt, sperrt die Tür auf. Ob ich mir das Haus auch von innen anschauen darf, frage ich, ich arbeite in der Notschlafstelle VinziRast mit. Er lacht entschuldigend: “Ich muss leider gleich wieder weg. Ich hole nur etwas. Aber in einem Monat können Sie wieder kommen. Da fangen wir mit dem Umbau an.”  Er schiebt sich mit seiner Scheibtruhe durch die Tür ins Haus. Ich bremse meine Neugier mit Mühe und folge ihm nicht. Gehe weiter. Vier Fenster noch, dann ist das Haus zu Ende. Da es breiter ist als das anschließende, ein Stück weiter in die Lackierergasse hineinreicht, sieht man noch einen Streifen seiner ehemaligen “Wetterseite”, die fensterlos und verschindelt ist. Von oben nach unten auf den Schindeln der Schriftzug: Fortuna KINDERWAGEN EIGENE ERZEUGUNG HIER IM AUS. Das H vor und das E nach dem AUS sind fast vollständig von neu(er)en Schindeln überdeckt.

Und hinter dieser bröckelnden Fassade, die dem (W)Ort “obdachlos” wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Plusminus 1500 Quadratmeter ungenutzte Nutzfläche mitten in Wien. Einen besseren Platz für das Projekt VinziRast-Mittendrin hätte man nicht finden können.

Was das für ein Projekt ist? Hier zwei Links zu detaillierten Informationen: www.vinzirast.at und www.indivolution.tk.

Nur so viel: Anlässlich der Besetzung des Audimax 2009/2010 haben Studenten und Obdachlose einander kennengelernt und dieser Kontakt mündete in die Idee einiger Studenten einen “Ort der Begegnung von Studierenden, Obdachlosen und interessierten Menschen” auf die Beine zu stellen. Und genau das geschieht hier durch die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan (Trägerverein der Einrichtung VinziRast-CortiHaus), Studenten (warum sie sich lieber Studierende nennen, weiß ich noch nicht), private Sponsoren und freiwillige Helfer (dazu zähle ich auch die vielen wohnungslosen und ehemals wohnungslosen Hände, die fleißig mit anpacken). Geplanter Baubeginn Sommer/Herbst 2011, geplante Eröffnung Herbst/Ende 2012. In diesem Haus soll es dann u. a. geben: ein Restaurant/Cafe ohne Konsumzwang, für jedermann zugänglich, mit einem guten, einfachen Essen, verschiedene Werkstätten, in denen vor allem wohnungslose Menschen ihre Talente und Fähigkeiten wieder entdecken, ausleben, vielleicht als Sprungbrett in die Arbeitswelt (zurück) nutzen können, Räume für Beratungen in verschiedensten Bereichen, Veranstaltungen wie Filmvorführungen, Lesungen, Vorträge, es soll auch Platz zum Arbeiten und Studieren für Studenten geben, auch eine Zusammenarbeit mit einigen Instituten der Universität Wien ist geplant, die Studenten sollen im Haus verschiedene Praktika machen können und Forschungsarbeiten, und als Tüpfelchen auf dem i soll es auch Wohneinheiten geben für Studenten und (dann nicht mehr) obdachlose Menschen, die, solange sie hier wohnen, in verschiedensten Bereichen im Haus und an der Weiterentwicklung des Projektes mit- und zusammenarbeiten.

Ein Halbsatz aus www.indivolution.tk (Fassung 11.2.2011), der mir gefällt: “… wohnungslosen Menschen … eine neue, ganz andere Möglichkeit angeboten wird in der Zeit von 08:00 bis 18:00 von Montag bis Sonntag einmal anzukommen mit ihren ureigenen Talenten und Fähigkeiten …” Ich würde nur das Wort wohnungslos weglassen.

Hier liegt der Anfang für mein Buch. Irgendwo.

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