Zwei Vogerln am Balkongeländer

Am nächsten Morgen in der Früh geht es gleich weiter mit den überreizten Nerven. Es ist saukalt im ganzen Haus. Mein lieber Bruder ist Frischluftfanatiker, daher sind so gut wie alle Fenster und die Türen zum Balkon offen. Draußen hat es 8 Grad, sagt mir ein Blick auf das Außenthermometer … wir befinden uns in einem Salzburger Gebirgstal. Ich flitze von einem Fenster zum nächsten, mache mir keine Mühe, sie leise zuzumachen, man kann im oberen Stockwerk, wo die andern noch schlafen, ruhig hören, dass mir kalt ist, knalle die zwei Balkontüren zu und flitze weiter zum Küchenfenster, dessen Schließvorrichtung klemmt und beim raschen Zumachen lautstark einrastet. Dabei fällt mein Blick auf das Balkongeländer vor dem Küchenfenster. Dort sitzen zwei kleine Vogerln, aneinander gekuschelt, zwei aufgeplusterte Federbällchen, die sich aneinander reiben und gegenseitig wärmen, die Köpfchen bewegen sich lebhaft, die Schnäbel gehen unentwegt auf und zu, sie müssen sich viel zu sagen haben. Mein Fenster- und Türenknallen stört sie so wenig wie ich, obwohl ich sicher nicht weiter von ihnen entfernt bin als zwei Meter und mich ungeniert bewege.

„Hat er sie abgeholt?“ geht es mir durch den Kopf. „Wollen sie mir das jetzt sagen?“ Ich bewege mich noch mehr, um zu schauen, ob sie wegfliegen. Sie bleiben sitzen.

Hintergrund meiner Frage(n): Ich hatte tags zuvor am Sterbebett meiner Mutter meinen längst verstorbenen Vater gebeten (genauer gesagt: von ihm vehement gefordert), sie abzuholen, denn sobald ER an ihr Bett treten und sagen würde „Komm!“, würde sie ohne Zögern und Angst gehen, sie würde mit Freude durch diese letzte Tür rennen.

Jetzt saßen die zwei Vogerln da. Wie aneinander festgewachsen und am Balkongeländer angeklebt. Nachdem ich ihnen eine Weile zugeschaut hatte, holte ich mir eine Jacke. Es war wirklich saukalt. Als ich zurückkam, waren die beiden weg.

Nach dem Frühstück ging ich auf den Friedhof und zündete am Grab meines Vaters eine Kerze an.

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