Mein täglicher Spießrutenlauf durch die Bettler

Das Guesthouse, in dem ich in Boudha wohne, liegt in der Nähe eines Klosters und dieses Kloster liegt in der Nähe des Stupa und da der Stupa von Boudha der größte und einer der berühmtesten in Nepal ist, drängen sich hier das ganze Jahr über unzählige Gläubige und in Hauptsaison-Zeiten, wie jetzt im Oktober und November, Massen von zahlungskräftigen Touristen und zahlungswilligen Sinnsuchenden. Ein besseres Revier, mit seiner Hilfsbedürftigkeit Geld zu verdienen, gibt es nicht, vor allem wenn die Hilfsbedürftigkeit ins Auge sticht.

Jedesmal, wenn ich Richtung Stupa gehe (und das tue ich täglich, da die Athmosphäre dort vor allem am Morgen, aber auch am frühen Abend angenehm und halbwegs staubfrei ist und ich mir angewöhnt habe, den Stupa einmal täglich 20 mal zu umrunden, das ist Spaziergang und Meditation zugleich), muss ich sowohl durch den Klosterbereich als auch durch die angrenzenden engen Gassen, die die Bettler offensichtlich als zeitlich und örtlich begrenzte Reviere untereinander aufgeteilt haben.

Was ich hier bisher zu sehen bekommen habe, geht unter die Haut. Keine Beine, verkrümmte Beine, lahme Beine, fehlende Arme, Hände ohne Finger, entstellte Gesichter, verformte Köpfe, sehr viele Blinde, sonstwie verkrümmte Gestalten … Dazu kommen die geistig Behinderten, meist in Begleitung. Und dann sind da noch die Mütter mit ihren gesunden Babys oder körperlich oder geistig behinderten Kindern, die meistens im Rollstuhl sitzen.

Die normalen Bettler - also ohne geistige oder körperliche Beeinträchtigungen - nehme ich mittlerweile gar nicht mehr wahr, ganz zu schweigen von den zwei bis drei jungen Alkohol- und/oder Drogensüchtigen, die sich vor der Klostermauer häuslich eingerichtet haben. Ich schaue nur mehr, ob noch alle Extremitäten dran sind und wenn nicht, ob noch genug dran ist, um damit noch etwas anfangen zu können … Es sind einfach zu viele hier.

Und was das Ganze noch schwieriger und vollends unmenschlich macht: Vielen von ihnen kann man nicht helfen, selbst wenn man bereit wäre, viel Geld in die Hand zu nehmen, um beispielsweise die Situation der behinderten Kinder auf Dauer zu verbessern, weil kriminelle Banden dahinterstecken, die sie für sich arbeiten und niemals aus diesem “Geschäft” aussteigen lassen.

Nur ein Beispiel: Seit ich hier unterwegs bin, sehe ich jeden Tag eine schon etwas ältere Frau mit einem schwerstbehinderten Mädchen im Rollstuhl (schaut nach zerebraler Lähmung aus), neben ihr meist einige junge Frauen mit Babys. Ich überlege tagelang hin und her, habe eine schlaflose Nacht, am nächsten Morgen spreche ich die Frau an, mit dem Vorsatz, ihr - sobald ich sie kennengelernt habe - meine dauerhafte Hilfe anzubieten. (Ich dachte an eine regelmäßige monatliche Geldüberweisung, damit die beiden nicht ständig ums Überleben kämpfen müssen.) Dabei stellt sich heraus, dass sie nicht allein hier ist mit dem behinderten Mädchen, dass sie Teil einer Gruppe aus Indien ist, dass sie und die jungen Frauen, die immer in ihrer Umgebung mit ihren Babys betteln, nur Hindi sprechen, niemand von ihnen Nepali versteht (was darauf schließen lässt, dass sie nicht dauernd hier leben, sondern zum Betteln herkommen) und natürlich auch kein Englisch. Als die jungen Frauen bemerken, dass ich der älteren Frau mit dem behinderten Mädchen helfen will, stürzen sie sich auf mich, wollen sofort wissen, wo ich wohne, wollen meinen Namen, meine Telefonnummer, damit mich jemand anrufen und mir Auskunft geben kann, der Englisch spricht … Da werde ich vorsichtig. Ich frage, ob ich ein Foto machen darf, gebe der älteren Frau 500 NR (das sind nicht einmal 5 €) und ziehe mich so schnell wie möglich zurück. “I’ll come back in a few days!”

Ein sehr engagierter Nepalese, der in der Behindertenhilfe arbeitet und auch mit Bettlern zu tun hat (wenn sie behindert sind und beispielsweise einen Rollstuhl brauchen) bestätigt meine Vermutung. Er rät mir sogar eindringlich, mich nicht tiefer mit dieser Gruppe einzulassen, da ich dem Mädchen ohnehin nicht helfen könne und jeder nähere Kontakt auch für mich gefährlich werden könnte.

Vielleicht mache ich einen Fehler, aber … Es gibt einen anderen Weg zum Stupa. Er ist staubig, viele Motorräder.

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