Der dritte (erste Dienst)Abend. Oder: Babylonische Verwirrung.

Halb sechs (17:30 Uhr). Vor der Haustür schon eine Gruppe Gäste. Also kein Gespräch mit Sebastian vorher, ob es vielleicht irgendetwas gibt, das ich wissen sollte, kein Durchsehen der Listen der letzten Tage, bei der Tür hinein, die Rezeption aufsperren, Anorak ausziehen und mit Kopfsprung in den Check-in.

Plusminus 90 Menschen kommen, stürmen, hatschen, humpeln, schleichen, stolzieren im Lauf der nächsten Stunden bei der Tür herein und nicht wenige von ihnen zeigen sich verwundert, einige verärgert, dass da plötzlich jemand ist, der keine ihrer Sprachen spricht und von ihnen verlangt, dass sie sich ihm verständlich machen. Einer, der ein bisschen deutsch spricht und mir äußerst ungut auffällt, weil er immer wieder versucht, einen Mann, der an diesem Tag noch Hausverbot hat, einzuschleusen, kommt sogar zu mir und sagt: “Weißt du, dass die Leute über dich lachen?” Nächstenliebe, wo bist du?

Sebastian ist ein Engel. Er ist so freundlich, so entgegenkommend, ich glaube, jeder Gast, jeder Ehrenamtliche hier schätzt ihn, er hilft, wo er kann, ist nie ungeduldig, immer bemüht, wenn er Zeit hat, sitzt er bei den Gästen, erklärt mir, wenn ich Zeit finde ihn zu fragen. Er erinnert mich an Albrecht (siehe z.B. die Artikel “Und dann fahren wir mit dem Dampfer…”, “Er scheißt sich an…”, Die erste Nacht draußen.). Wunderbar, wenn es hier auch so einen Menschen gibt. Ich fühle mich gleich viel wohler. Und wenn mir beim Check-in heute ein paar Fehler unterlaufen … Was macht das schon? Davon verbrennen keine Menschen. Im schlimmsten Fall schläft einer in einem falschen Bett. Außerdem mache ich es zum ersten Mal. Und ich bemühe mich.

Bei der Vergabe der “freien” Betten verstoße ich mit Sicherheit gegen hundert Regeln, die ich allerdings nicht kenne, weil jeder, mit dem ich bis jetzt zu tun hatte, zu diesem Punkt etwas anderes sagt. Dabei geht es um so diffizile Fragen wie: Ab wann ist ein Bett “frei”, soll heißen: Wie viele Tage muss es für einen Gast, der es belegt hat, freigehalten werden, wenn er nicht (mehr) kommt? Und wenn ein Bett frei ist, um welche Uhrzeit (zwischen 18 und 22 Uhr) darf es wieder vergeben werden? Und eine Frage beschäftigt mich an diesem Abend besonders: Muss ein Bett für einen Gast, der aus irgendeinem Grund drei Tage Hausverbot hat, freigehalten werden? Das kann nicht sein, denke ich, eine Notschlafstelle, in der Betten ohne triftigen Grund reserviert werden, ist keine Notschlafstelle und eine Regel, die besagt, dass für jemand, der das Haus wegen Alkohol, Drogen oder Gewalt (wenn auch nur für ein paar Tage) verlassen muss, das Bett warm gehalten werden muss, wäre absurd und im Winter, wenn der Bedarf nach Betten höher ist als das Angebot …  Also halte ich mich in diesem Fall an das, was der Hausleiter am ersten Abend zu mir gesagt hat (”Jeder Ehrenamtliche entscheidet, wie er das handhaben möchte. Wenn Sie Dienst haben, sind Sie der Herr hier. Sie entscheiden.”) und vergebe ganz bewusst ein derartiges Hausverbots-Bett. Dass der Obmann (der Vinzenzgemeinschaft, die Träger der Notschlafstelle VinziPort ist), der um 21 Uhr auftaucht, etwas anderes sagt als der Hausleiter, wundert mich nicht im Geringsten, sauer bin ich trotzdem, als er die Vergabe dieses Bettes zwar höflich, aber doch, beanstandet. Und als er mir erklärt, dass ich vor 22 Uhr überhaupt kein freies Bett vergeben darf (diese Version ist funkelnagelneu für mich, Sebastian hat den ganzen Abend lang von 21 Uhr gesprochen) und was ich nach 22 Uhr noch alles zu tun habe, bevor ich die freien Betten vergeben darf, weise ich ihn darauf hin, dass ich das Haus um dreiviertel zehn verlassen werde. Ich bin stinksauer.  

Um halb zehn kommt “der Nachtdienst”. Eine freundliche Frau. Ich versuche ihr einige Infos vom Abend weiterzugeben, aber es geht nicht, sie spricht nicht deutsch. Ich schmeiße das Geld (eine Übernachtung mit Essen und Duschen kostet 1 Euro) in die Kassa (hätte ich noch etwas wie eine Abrechnung machen sollen?), trage mich für den nächsten Dienst ein (warum eigentlich?) und gehe.

“Mein” Gast dieses Abends? Ist leider kein Gast geworden. Es war mein Fehler. Und es tut mir unendlich leid, dass ich mich bei ihm (warum nur???)  an die “drei-Tages-Regel” und an die “Uhrzeit-Regel” (Variante 21 Uhr) gehalten habe und ihm nicht sofort ein freies Bett gegeben habe. Ein junger Mann, hungrig, blaue Hände, kommt als einer der ersten bei der Tür herein, legt mir ungefragt sein gesamtes Vermögen (ein kleiner Haufen einzelne Cent) her, den Ausweis dazu, “ein Bett?” Das schmale Gesicht ein hoffnungsvolles Fragezeichen. Nein. Er muss warten. Ob er etwas essen darf? Natürlich. Er gräbt sich in die Brote ein, trinkt Tee. Dann kommt er wieder zu mir, “ein Bett?” Nein. Ich darf ihm noch kein Bett geben. Um 21 Uhr soll er wiederkommen (sage ich blödsinnig brav). Er nickt. Geht. Kommt nicht wieder (zumindest nicht bis dreiviertel zehn). Hat er mich nicht verstanden? Drei Betten wären (schon drei Tage) frei gewesen …

Die Kommentare sind geschlossen.