“Auf die Bücher müsst ihr aufpassen, ihr habt so viele gute.”

Der Mann sitzt mitten im Getümmel und liest ein Buch über Karl den Großen.
“Ich lese viele Geschichtsbücher.”
Rundherum wird gegessen. Der Fernseher läuft.
“Ihr dürft sie nicht wegwerfen, wenn ihr die Notschlafstelle zusperrt.”
Ich würde ihm gern viele Fragen stellen. Aber bevor ich dazu das Recht hätte, müsste ich mich viel tiefer einlassen, viel mehr von mir hergeben. [...]

Verhaltensforscher UND Psychiater müsste man sein.

Oder man dürfte nicht wissen wollen, warum Menschen sind, wie sie sind, warum sie sich verhalten, wie sie sich verhalten und wie man sich ihnen gegenüber “richtig” verhält.
Eine Frau: Um die Fünfzig, selbstbewusstes Auftreten, intelligent, redet gern, flüssig und gut, hat mit Sicherheit eine gute Ausbildung hinter sich, Berufserfahrung, Erfahrung im Umgang mit Menschen, die [...]

Hoffnung, Hoffnung …

Ein Artikel in der Presse, die Politiker sind auch brav bis auf … eh schon wissen, das Wetter ist traumhaft, das Menü lässt sich auch sehen

als Aperitif gibt’s frisch gepressten Apfel- und Karottensaft,
dann Gemüselasagne, Linsensuppe, Gemüsesuppe,
dann Hühner- und Gemüserisotto (ich würde Paella dazu sagen), Rindschnitzel und Gurkensalat sind auch noch da,
dann Schüsseln voller Weintrauben

… Herz, [...]

“Ihr hobt’s ma imma g’holfn.”

Der Countdown läuft. Die Zeit der leisen, gegenseitigen Dankeschöns.
“Der 30. April wird sicher nicht der letzte Tag sein, an dem wir offen haben. Ein, zwei (drei, vier?) Wochen machen wir im Mai noch weiter. Bis wir alle gut untergebracht haben.”
Wo wird der alte Mann hingehen? Er isst fast nichts mehr.
“Mein Magen. Er verträgt das Essen [...]

Ausgewildert.

Konrad.
Er schläft fast nie in der Notschlafstelle. Er kommt so gut wie jeden Abend, aber er verbringt nur ein paar Stunden hier, streitet meistens mit ein paar Gästen, sitzt oder steht am liebsten in der Küche, erzählt jedem bereitwillig und freundlich seine Geschichten, der seinen intensiven Geruch aushält, isst (ein bisschen), hin und wieder geht [...]

“Was soll ich allein in der Wohnung?”

Ein ehemaliger Notschlafstellen-Gast, der fast täglich in die Notschlafstelle auf Besuch kommt. Neben ihm sitzt ein weiterer ehemaliger Notschlafstellen-Gast, der fast täglich in die Notschlafstelle auf Besuch kommt. Er nickt. Die beiden sind sich einig.
Jeder von ihnen hat mittlerweile eine Wohnung. Trotzdem sind sie fast jeden Tag am Abend hier. Verstehe ich. Ich fühle mich [...]

Und ich dachte schon, heute wird’s ernst.

Heute stehe ich da mit meinen nicht vorhandenen Kochkünsten und 5 Liter Kartoffelgulasch von gestern für 40 Leute (dachte ich, während ich von der U-Bahn-Station Richtung Notschlafstelle marschierte), weil die zweite Ehrenamtliche, die sich für den Küchendienst eingetragen hat, erst um 18:30 Uhr kommt und um 19 Uhr das Essen auf dem Tisch stehen soll. Das heißt [...]

Die niederschwelligsten Notschlafstellen sind wie Grenzposten.

Nicht nur viele Nationalitäten prallen hier aufeinander, auch zwei Gruppen von Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten:
Die einen wollen nicht drinnen bleiben, im Arbeitsmarkt nicht, in einer geregelten Gemeinschaft nicht, manche nicht einmal im sozialen Netz, das Land würden sie aber nie verlassen, wo sollten sie auch hin. Die anderen kommen von auswärts, viele von [...]

Ein Akkordfleischer aus Portugal.

Ein energischer Mann. Groß, schlank, steht mit mehr als zwei Beinen am Boden. Sucht Arbeit, findet keine. Einen Job hätte es übers AMS für ihn gegeben, aber den habe dann ein anderer bekommen. Schwarzarbeit habe man ihm angeboten, irgendwo in Niederösterreich, 40 Euro pro Tag plus Übernachtung und Essen, aber das will er nicht.
“Ein paar [...]

Es gibt vieles, das man in einer Notschlafstelle nicht sein darf.

Pflegebedürftig.
Krank.
Nicht einmal müde darf man sein.
Nicht einen Tag darf man “blau machen” und im Bett oder wenigstens zuhause bleiben.

Das Kuckucksnest sperrt mit 30. April zu …

Eine der drei auf ehrenamtlicher Basis geführten Notschlafstellen in Wien.
45 Betten. Offen für ‘jedermensch’, so steht es auf der Website (www.kuckucksnest.at) und so stimmt es.

Keine Drogen,
keine harten Getränke,
keine Gewalt.

Andere Zugangsbeschränkungen gibt es nicht. Es gibt nicht einmal eine Pforte am Eingang, eine Glas- oder Kunststoffwand, durch die man die Leute kommen sieht und dann auf [...]

Sieben Kinder mit vier Frauen.

Und 50.000 Euro Schulden beim Staat.
“Dad i orwat’n, dadn’s mi pfänd’n bis auf’d Untagati.”
Sozialhilfebezieher. Plusminus fünfzig. Tiroler.
“Owa i bi stoiz auf meine siem! Oi kerng’sund!”
Zur Zeit ist er mit einer Spanierin zusammen. Eine sehr sympathische Frau.
“Mia kinnan ins nit streit’n. Sie ku nit Deitsch und i ku nit Spanisch und Englisch ku i a nit.”
Die [...]

In Windeln auf der Straße.

Die Frau dürfte um die sechzig sein. Nicht groß, nicht dick, bis auf das Gesicht, das Gesicht ist dick und dunkelblau. Geduldig steht sie vor der verschlossenen Tür und wartet. Ich läute.
“Einlass ist erst ab 18:30 Uhr”, klärt sie mich auf.
“Kommen Sie öfter hierher zum Schlafen?”
“Jeden Tag.”
“Und wie lange schon jeden Tag?”
“Vier Jahre.”
Müde schaut sie [...]

Das Gesicht blau, die Stirn aufgeschlagen, der Anorak voller Blut.

“Herr Huber! Da sind Sie ja! Wir haben Sie schon vermisst! Wo waren Sie? Wieder im Krankenhaus?”
Der Mann nickt.
Wir freuen uns, dass Sie wieder da sind!”
Er lächelt. Euro hat er heute keinen. Das macht nichts.
Die Leiterin später erklärend zu mir:
“Er schaut immer so aus. Er trinkt, bis er umfällt. Außerdem ist er Epileptiker. Er ist [...]

Der Mann, der auf uns zukommt, ist drei Meter groß.

Dabei ist er nicht größer als ich. Aber er strahlt wie die Sonne höchstpersönlich.
“Gratulation, Herr Maier! Wir haben es schon gehört!”
Die Ehrenamtliche neben mir schüttelt ihm die Hand, lacht von einem Ohr zum andern. Dann bin ich an der Reihe. Ich weiß nicht, worum es geht, es ist mein zweiter Abend hier.
“Herr Maier hat die [...]

Wie in schwarze Farbe eingetaucht und die Farbe schlecht heruntergewaschen.

Die Hand, die sich mir entgegenstreckt.
Der Mann, der zu dieser Hand gehört, ist schlank, nicht groß, 35 Jahre alt (sagt er, ich hätte ihn auf maximal 25 geschätzt), vorne fehlen ein paar Zähne, die Haare auf der Seite ganz kurz, oben lang, ganz oben blond gefärbt, Rossschwanz, schwarze Lederjacke, dicker Ring, säuft wie ein Loch.
“Danke!”
Er [...]

Mein erster Mörder.

Wenn’s wahr ist. In Brasilien drei Leute erschossen bei einer Auseinandersetzung in einem Slum.
“Ich sehe die drei heute noch rennen.”
Der Mann ist sehr sympathisch. Ob die Geschichte stimmt, die er erzählt, weiß ich nicht. Ich weiß oft nicht, ob die Geschichten stimmen, die die Leute erzählen.
“Ich war dafür drüben im Gefängnis.”
Er zeigt mir seinen Pass. [...]

Das erste, das ich durchs Fenster sehe, ist eine brennende Kerze.

Später sehe ich dann das Bild, vor dem sie steht: ein Gast dieser Notschlafstelle.
Er hatte Lungenkrebs. Er ist ein paar Tage zu seiner Familie nach Deutschland gefahren und dort gestorben.
Eine Woche später steht das Bild immer noch da.

“Wenn ich da bin, sollen sie nicht hungern!”

Alexander tischt auf. Geselchtes und Graupelsuppe hat er zuhause schon vorgekocht, das schleppt er in Töpfen an, das Kortoffelpürree machen wir hier, außerdem hat er noch Würste mitgebracht, Eier, Pesto. “Ich kenne sie ja.”
Er hat Recht. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wie die Wölfe. Das Fleisch ist innerhalb von fünf Minuten weg, als [...]

Er hat es geschafft!

Der alte Mann mit den vielen Krätzen. Er war beim Arzt und ist selig.
Mindestens eine halbe Stunde rennt er in Pullover und Unterhosen durch die Gegend (offenbar war er vorher unter der Dusche) und erzählt, wie freundlich “die auf der Klinik” gewesen sind. “Warum sind Sie denn nicht schon viel früher gekommen?”, hätten sie gesagt.
Er [...]