Eine Fürbitte,

die ich in der Kirche nicht gelesen habe:

In den letzten Jahren deines Lebens warst du sehr einfach und bedürfnislos. Eine Scheibe Butterbrot und ein Häferl Kaffee. Das war dir etwas vom Allerliebsten. Dafür warst du anderen gegenüber ungeheuer großzügig. „Man muss noch mit warmen Händen geben“, hast du gesagt.

Möge die Liebe dir diese Großzügigkeit ebenso großzügig mit Liebe vergelten. Das wünsche ich dir.

Und mögen die Bedürfnislosigkeit und Großzügigkeit, die du mir in den letzten Jahren vorgelebt hast, in mir weiterleben. Das wünsche ich mir.

Das Begräbnis

war ein Begräbnis. An dessen Ende ein tiefes Loch in der Erde, darin ein Sarg, darin ein Körper. Erde wird hinuntergeworfen, Blumen, Weihwasser gesprengt. Tränen. Dann verlassen alle den Friedhof. Die Verwandten und geladenen Trauergäste sitzen bei Traumwetter unter weißen Sonnenschirmen und ausladenden Baumkronen in einem Gastgarten und bekommen vor dem ersten Gang des Trauermahls ein Glas Sekt serviert, während der Totengräber am Friedhof das Loch über dem Sarg mit der Erde füllt, die er tags davor daraus entnommen hat, die Blumen und Kränze über dem Erdhügel verteilt und das Holzkreuz aufstellt.

Am Abend dieses Tages ist es leer im Haus unserer Mutter. Leer, leer und leerer als leer. Und eiskalt. Die notdürftige Gemeinsamkeit ihrer beiden Kinder wie vom Wind verweht. Als wäre sie mit ihr begraben worden. Die gemeinsame Aufgabe ist getan. Das Bindeglied der letzten Jahre liegt am Friedhof. Es reicht nicht einmal für ein gemeinsames Abendessen. „Nein danke. Wir haben keinen Hunger.“ Etwas Dunkles am Horizont. Sein Name beginnt mit E. Es ist. Unglaublich. Lächerlich.

Und traurig.

Und erschreckend. Die ganze Prozedur der letzten Tage, dieser unglaubliche Aufwand nach außen, diese prächtige Abschiedsvorstellung. Und wenige Stunden später „zuhause“ Funkstille, Kälte und etwas Dunkles. Das ist wie ein Bild unserer Familie, so, wie ich sie seit meiner Geburt kenne und seit ich denken kann, ablehne. Wichtig (nur) die schöne Oberfläche, außerordentlich gepflegt, wunderbar aufpoliert mit Titeln und Silberputzzeug. Darunter …

Am nächsten Tag fährt der eine nach Osten, der andere nach Westen. Haus und Grab bleiben. Zum Glück gibt es liebe Menschen, die sich darum kümmern.

Der Tag in der Aufbahrungshalle

ist ein guter Tag. Der mit Abstand beste und eindrucksvollste Tag der Tage vor dem Begräbnis.

Dieser Tag ist ein Rest vom alten Brauch der Totenwache. Und ich vermute, es gibt ihn nur mehr am Land und auch am Land längst nicht mehr überall und auch dort, wo es ihn noch gibt, gibt es viele, die damit nichts mehr anfangen können.

Wir sollten auf diesen letzten Rest der Totenwache gut aufpassen und ihn bewahren. Er ist wertvoll.

Der Verstorbene kommt endlich dorthin, wo er hingehört. In den Kreis seiner Familie, die den ganzen Tag lang bei ihm wacht, während die Menschen aus dem Ort und der Umgebung kommen (können), um sich zu verabschieden.

Der Sarg mit den Blumengebinden steht erhöht zwischen hohen, brennenden Kerzen. Davor ein Foto des Verstorbenen und Weihwasser zum Sprengen. Im Hintergrund leise Musik oder auch nicht, Texte zum Meditieren oder auch nicht, zwischendurch Gebete oder auch nicht.

Im Lauf des Tages baut sich in diesem Raum eine ganz besondere Atmosphäre auf. Besonders für die, die Stunde um Stunde um Stunde um Stunde hier verbringen. Für mich war es wie eine Kuppel aus sanftem Licht, Frieden, Ruhe, Wärme, Geborgenheit und etwas Heiliges war auch dabei. Liebe.

Es ist wie am Sterbebett sitzen. Oder an einem Meditationszyklus teilnehmen. Man muss sich darauf einlassen. Dann kann es eine außerordentlich kostbare Erfahrung werden.

Die Zeit zwischen Tod und Begräbnis

ist über weite Strecken eine Josef-Hader-Kabarett-taugliche Zeit. Er könnte Stadthallen mit diesem Thema füllen. Die Zuschauer würden noch Tage später Bauchweh vom Lachen haben. Er müsste nichts aufpolieren. Nur die splitternackten Fakten erzählen. Mit seiner Stimme. Dazu sein Gesicht wäre ein Traum.

Wir waren glücklicherweise wenigstens zu zweit bei diesem Run durch den Dschungel der Kompetenzen von Bestattungsunternehmen, Standesamt, Pfarrkanzlei, Pfarrer, Gemeinde, Totengräber und Steinmetz. Für Neulinge auf diesem Gebiet ist es ein hartes Stück Arbeit, abzuklären, wer welchen Handgriff wann tut, damit sich nicht irgendwo zwischendurch ein kompetenzloses Loch auftut, in dem der Verstorbene verschwindet oder vor dem er abgelegt wird, weil niemand da ist, der für den nächsten cm des Weges bis „in die Grube“ zuständig ist

Erschwerend kam bei uns noch dazu, dass wir uns diverse Eier selber legten. Aber es musste ja alles perfekt sein, durchgestylt wie das Menü eines Haubenkochs.

So hatten wir einen Priester für die Messe gewählt, der unserer Familie nahesteht, aber erstens nicht der für den Ort zuständige und zweitens schon in Pension und bis zum Tag vor dem Begräbnis in Italien auf Urlaub war. Das führte dazu, dass der Priester vor Ort zwar sehr hilfsbereit und freundlich war, in der Sache selbst aber immer wieder sagen musste: „Das müsst ihr bitte mit eurem Priester abklären.“ Der aber nicht erreichbar, weil im Urlaub war …

Dazu kamen der Blumenschmuck, die verschiedenen Sorten von Musik, die Gestaltung des Lebenslaufes, die Formulierung der Fürbitten, damit verbunden die innerfamiliäre Diskussion, wer was (nicht) liest, die verzweifelte Suche nach einem ganz bestimmten irischen Reisesegen, der aber weder im Internet noch sonstwo aufzutreiben war, die Organisation der Sargträger, des Kreuzträgers, des Vorbeters samt Rosenkranztermin (in dieser Gegend ist Rosenkranzbeten bei Teilen der älteren Generation noch wichtig und war es auch für unsere Mutter), nicht zu vergessen das feudale Totenmahl, ganz wichtig auch das passende Gewand kaufen oder sich schicken lassen … und natürlich massenhaft Telefonate führen und möglichst blitzartig die Parte gestalten und verschicken, nachdem alle Termine fixiert und alle Adressbücher gesucht, einige gefunden und diese durchgeackert waren, und zwar so frühzeitig, dass die Empfänger auch die Chance hatten, zum Begräbnis anzureisen, wenn sie wollten.

Wir hätten einiges einfacher machen können. Aber wir wollten, dass alles schön und so wird, wie unsere Mutter es sich vielleicht gewünscht hätte. Hätte sie sich das alles gewünscht? Sie hatte sich sehr verändert im Lauf ihres langen Lebens, war sehr einfach geworden, bescheiden.

Und wo war sie eigentlich, während wir mit der Choreographie ihrer Abschiedsvorstellung beschäftigt waren? Weit weg in einem Kühlraum. Zuerst im Kühlraum des Krankenhauses, dann in dem der Bestattung. Erst am Tag vor der Aufbahrung wurde der Körper herausgeholt, schön angezogen („Entschuldigen Sie die Frage: Ihre Mutter hat noch drei Ringe an den Fingern. Sollen wir die herunternehmen?“ „Um Himmels Willen! Nein!“) und in den Sarg gelegt, der sofort verschlossen wurde und anschließend nicht mehr geöffnet werden konnte. Am Morgen des Aufbahrungstages wurde der Sarg in die Aufbahrungshalle gebracht, wo die Gärtnerei schon mit dem Blumenschmuck wartete und Kerzen und Weihwasser und Sonstiges.

Meine Großeltern waren noch drei Tage lang bei uns zuhause aufgebahrt worden. Offen. Jeder konnte sie anschauen. Berühren. Undenkbar unhygienisch …

Noch früher hielten die Nachkommen drei Tage und Nächte lang Totenwache bei den Verstorbenen. Noch undenkbarer …

Und was ist mit den Traditionen und alten Schriften, die sagen, dass sich die Seele eines Menschen erst drei Tage nach dem Tod des Körpers ganz von diesem lösen kann? Alles Humbug?

Wenn mein Bruder und ich in diesen Tagen am Abend hundsmüde in halbwegs trauter Zweisamkeit am Balkon saßen, grübelten wir oft, wie es unserer Mutter jetzt wohl gehen mochte … allein, weit weg, in einem Kühlraum. Der Gedanke war SEHR unangenehm. Tröstlich war nur das Wissen, dass sie dieses Schicksal mit allen Verstorbenen der zivilisierten westlichen Welt teilt.

GUT waren in dieser Zeit die Spaziergänge, die vielen brennenden Kerzen, einzelne Gespräche und die zwangsläufige Gefahrengemeinschaft und gegenseitige Rücksichtnahme zweier seit Kindertagen auf Konfrontation programmierter Geschwister.

Zwei Vogerln am Balkongeländer

Am nächsten Morgen in der Früh geht es gleich weiter mit den überreizten Nerven. Es ist saukalt im ganzen Haus. Mein lieber Bruder ist Frischluftfanatiker, daher sind so gut wie alle Fenster und die Türen zum Balkon offen. Draußen hat es 8 Grad, sagt mir ein Blick auf das Außenthermometer … wir befinden uns in einem Salzburger Gebirgstal. Ich flitze von einem Fenster zum nächsten, mache mir keine Mühe, sie leise zuzumachen, man kann im oberen Stockwerk, wo die andern noch schlafen, ruhig hören, dass mir kalt ist, knalle die zwei Balkontüren zu und flitze weiter zum Küchenfenster, dessen Schließvorrichtung klemmt und beim raschen Zumachen lautstark einrastet. Dabei fällt mein Blick auf das Balkongeländer vor dem Küchenfenster. Dort sitzen zwei kleine Vogerln, aneinander gekuschelt, zwei aufgeplusterte Federbällchen, die sich aneinander reiben und gegenseitig wärmen, die Köpfchen bewegen sich lebhaft, die Schnäbel gehen unentwegt auf und zu, sie müssen sich viel zu sagen haben. Mein Fenster- und Türenknallen stört sie so wenig wie ich, obwohl ich sicher nicht weiter von ihnen entfernt bin als zwei Meter und mich ungeniert bewege.

„Hat er sie abgeholt?“ geht es mir durch den Kopf. „Wollen sie mir das jetzt sagen?“ Ich bewege mich noch mehr, um zu schauen, ob sie wegfliegen. Sie bleiben sitzen.

Hintergrund meiner Frage(n): Ich hatte tags zuvor am Sterbebett meiner Mutter meinen längst verstorbenen Vater gebeten (genauer gesagt: von ihm vehement gefordert), sie abzuholen, denn sobald ER an ihr Bett treten und sagen würde „Komm!“, würde sie ohne Zögern und Angst gehen, sie würde mit Freude durch diese letzte Tür rennen.

Jetzt saßen die zwei Vogerln da. Wie aneinander festgewachsen und am Balkongeländer angeklebt. Nachdem ich ihnen eine Weile zugeschaut hatte, holte ich mir eine Jacke. Es war wirklich saukalt. Als ich zurückkam, waren die beiden weg.

Nach dem Frühstück ging ich auf den Friedhof und zündete am Grab meines Vaters eine Kerze an.

Zugeprostet!

Nachdem sie am Nachmittag gestorben war und ich den Familienrummel und das Kindergeschrei beim Abendessen irgendwie überlebt hatte, flüchtete ich in die Stille eines Spaziergangs (im Schneckentempo) an der Salzach, danach ins Geschirrabwaschen und Putzen der Küche und dann zu den Schnapsflaschen. Ich griff mir den Marillenschnaps, füllte das (Schnaps)Glas bis zum Rand, stellte die Flasche zurück, drehte mich um und … da lachte sie mich an, so lieb und strahlend, ein Weinglas in der Hand prostete sie mir zu. Von einem Foto aus, das eingerahmt auf der Kommode gegenüber dem Kasten mit den Spirituosen stand. Irgendwie muss wohl das Licht so auf das Foto gefallen sein, dass ihr Gesicht ganz hell und warm leuchtete. Ich starrte in die unglaubliche Wärme dieses Gesichts, auf einem Foto, das mir bisher überhaupt nicht gefallen hatte, sah ihr Lachen, ihr Weinglas, das sie mir zum Anstoßen entgegenhielt. „Prost!“

Die überreizten Nerven. Ich weiß. Nein. Ich weiß nichts. Ich fühle. Wärme.

Der Aufprall danach

in der gewöhnlichen Welt ist hart.

An einem Sterbebett igelt man sich anfangs meistens ein, aus Angst vor dem Sensenmann, der hier seine Arbeit tut, werden 150% der verfügbaren Abwehrraketen und Nuklearsprengköpfe ausgefahren, um das Furchtbare, das da geschieht, von sich fernzuhalten, nur ja nichts an sich heranzulassen, auch die eigenen Gefühle und Abgründe nicht. Wenn man sich dann aber einlässt auf das, was geschieht, öffnet man sich. Weit. Anders könnte man sich auf diesen Prozess nicht einlassen. Man lässt alles zu (und wird beschenkt), wird empfänglich, durchlässig.

Und das ist man dann auch noch, wenn es vorbei ist.

Und es dauert, bis man sich wieder soweit im Griff bzw. eingeigelt und abgeriegelt hat, dass man das Getöse der normalen Welt wieder aushalten kann.

Und bis es soweit ist, tut sie scheußlich weh. Die Normalität. Das Gewöhnliche. Geschrei. Getue. Gerede. Gerangle. Um nichts.

Ich hatte großes Glück.

Dass ich bei ihr sein durfte, als es anfing zu Ende zu gehen. Dass ich mit ihr sein durfte, als das Atmen noch schwieriger wurde, als es vorher schon war. Dass ich sie aufrichten durfte, ihr mit zittrigen Fingern über das schweißnasse, fiebrige Gesicht streichen durfte, während sie kämpfte. Dass ich mich ungeschickt und hilflos bemühen durfte, immer wieder die Schwester zu Hilfe rufen durfte, bis mir diese geduldig und ausführlich erklärte, dass „das alles schon dazu gehört“. Dass ich ihre Angst zuerst mit ihr teilen und dann mit ihr überwinden durfte. Dass ich hinter und neben ihr stehen durfte als Schulter zum Anlehnen. Dass ich ihr gut zureden und es selber begreifen durfte, dass ihr nichts passieren kann beim Loslassen, dass sie vor nichts Angst haben muss, weil alles gut ist, wie es ist.

Ich hatte großes Glück, dass ich mich mit ihr auf das glatte Eis des Unbekannten stellen und dort mit ihr ausharren durfte Stunde um Stunde, während sich die letzte Tür langsam, ganz langsam öffnete.

Dann kamen die andern und stellten sich rund um ihr Bett. Sie sahen sie (nur mehr) sterben.

Ich hatte riesengroßes Glück.

Dieses letzte Stück Weg (während die letzte Tür sich öffnet) birgt mindestens so viele Wunder wie Monster, mindestens so viel Liebe wie Schrecken. Wenn man/frau sich darauf einlässt. Darf man/frau ein winziges Stück des Mysteriums TOD begreifen. Berühren. Mit warmen, lebendigen Händen.

Ganz ruhig ist es.

Keine Infusionen mehr, keine Blutabnahme, nur mehr ein bisschen Flüssigkeit subkutan und ein bisschen Morphium.

Die brüchigen Venen haben nein gesagt, der ganze Körper schreit nein, lasst mich endlich in Ruhe, ich will eure Hilfe nicht mehr, eure Truppen, die ihr mir zur Verstärkung schickt gegen die vielen Feinde, die mich angreifen! Schaut mich doch an! Ich bin am Auseinanderfallen! Seht ihr das nicht? Warum wollt ihr das denn wie einen Strudelteig in die Länge ziehen? Zu retten gibt es hier nichts mehr. Ich will jetzt meinen Dienst endlich beenden dürfen! Nach 100 Jahren ist es genug!

Neben dem Bett sitzen, ganz leicht über die dunkelblau aufgedunsene Hand streicheln, über die Stirn, sie anschauen, das fremde und doch so bekannte Gesicht, die Augenlider, die so fest über den Augen geschlossen sind, als wären sie dort festgewachsen, die Nase, die immer gelber und weißer und spitziger wird, das Knie, das sich manchmal bewegt. Einfach nur dasitzen. Hin und wieder leise reden. Aufstehen. Einen Tee trinken. Wieder hinsetzen. Lassen.

Ich dachte, es würde schwierig, weil zwischen uns nicht immer alles so gut gelaufen ist. Es ist aber nicht schwierig. Es kommt kein Vorwurf, kein schwarzer Gedanke. Im Gegenteil. Da ist Verständnis, gegenseitiges Verzeihen, gegenseitige Anerkennung. Friede.

Vielleicht kommt das andere noch. Jetzt ist es jedenfalls gut. Ich habe mir gestern einen Pott „Nerventropfen“ gekauft. Bis jetzt brauche ich sie nicht. Ich bin ruhig. Mein Platz ist hier. Würde ich jetzt nicht hier sein, würde ich die Tropfen brauchen.

So. Jetzt setze ich mich wieder zu ihr. In zwei Stunden kommt mein Bruder mit noch ein paar Leuten, dann gehe ich eine Runde spazieren. Und dann komme ich wieder. Und bleibe.

Das ist mir ein Bedürfnis. Keine Last. Keine Pflichterfüllung. Es ist so ruhig hier, dass es mir Mühe macht, einen Gedanken zu fassen. Trotzdem tut es gut, diese wenigen hier aufzuschreiben.

Wenn ich etwas begriffen habe in dieser Nacht,

ist es das: Wir sollten viel aufmerksamer miteinander umgehen. Die Zeit nützen, die wir miteinander haben.

Die Nacht war ruhig.

Kein Lächeln. Die Augen zu.

Sauerstoffschläuche in der Nase, Infusionen und Blutergüsse so groß wie Handteller.

Hätte ich nicht gewusst, dass das meine Mutter ist, ich hätte sie möglicherweise gar nicht erkannt.

Aber sonst ist alles ok … Der Körper atmet noch.

Das Lächeln werde ich nicht mehr sehen. Aber. Ich habe es gesehen. Einmal, zweimal, vielleicht dreimal. Ich werde es nicht vergessen.

Heute war ein langer Tag und wird eine lange Nacht. Jetzt versuche ich erst einmal eine kleine Runde zu schlafen. Sie ist frisch umgebettet und schläft ganz friedlich.

In den letzten Monaten hatte sie nichts mehr

von ihrer so selbstbestimmten Art. Sie wurde ganz still, hörte wohl zu, sagte aber selbst nur mehr ganz wenig. Einmal sagte sie: „Jetzt ist eine komische Zeit. Jetzt habe ich nur mehr das Sterben vor mir.“

Als ich sie Mitte Mai nach einem Monat Abwesenheit wiedersah, waren abgesehen von ihrem rapiden körperlichen Verfall zwei Dinge anders: ihre Augen und (manchmal) ihr Lächeln

Ihre Augen waren so dunkel und tief, wie ich sie niemals zuvor gesehen hatte, wie offene Tore ins Weltall oder ins Jenseits, als könne man durch sie „hinüber“ schauen, weil sie von „drüben“ zu einem herüber schauen.

Und ihr Lächeln? Manchmal, wenn sie aus ihrer Versunkenheit und In-sich-Gekehrtheit auftauchte, schaute sie mich mit einem umwerfend wachen, feinen, liebevollen Lächeln an.

Auf dieses Lächeln hatte ich mich schon gefreut bei unserem nächsten Wiedersehen. Ich hatte es 66 Jahre lang vermisst …

So schnell kann’s gehen …

Gestern dachte ich noch, Mitte nächster Woche fahre ich wieder zu meiner Mutter und löse meinen Bruder bei ihrer Betreuung ab. Ich dachte, ich werde mit ihr am Balkon sitzen und wenn sie will, mit ihr Halma spielen, ich werde ihr die Beine massieren, vielleicht vorlesen, ich werde sie in den Arm nehmen, wenn sie wieder beginnt, im Sitzen nach vor und zurück zu schaukeln …

Es muss furchtbar sein, wenn man ganz klar bei Verstand ist und erleben muss, wie der eigene Körper zuerst langsam und dann immer schneller und schneller zerfällt. Man ist in einem Haus eingesperrt, das dabei ist zusammenzubrechen. Man hört es krachen, knarren, die erste Zimmerdecke bricht ein, ein Dachsparren, … Wie kann man sich davor schützen, bei dieser Prozedur durchzudrehen?

Heute ist alles anders. Ich weiß nicht, ob sie noch etwas krachen und knarren hört. Ansprechbar ist sie nach dem Schlaganfall gestern bis jetzt nicht. Und ich weiß auch nicht, ob sie morgen zu Mittag, wenn ich bei ihr im Krankenhaus ankomme, noch am Leben ist. Heute in der Nacht ist mein Bruder bei ihr. (Das ist toll, wir können uns im Krankenhaus aufnehmen lassen.) Das ist ein gutes Gefühl. Die zwei haben sicher noch viel miteinander „zu reden“. Morgen übernehme ich die Nacht, wenn es noch eine Nacht in diesem Körper für sie gibt.

Heute ist alles anders. Der Tod steht im Raum und aller Krimskrams ist weg. Als würden sich die Nebensächlichkeiten vor ihm fürchten. Das Wesentliche bleibt. Es wird größer, klarer sichtbar und hat eine feine, ganz warme Ausstrahlung. Es ist hier. Jetzt.

Seit gestern rumort es in mir.

Was werde ich schreiben? Und warum? Und für wen?

Völlig unnötig die Aufregung … Steht alles im Fettgedruckten auf der rechten Seite: Gewürfeltes Gemüse in einen 10-Liter Topf werde ich werfen und umrühren und köcheln lassen, und jeder, der auf der Straße unterwegs ist und etwas von dem Eintopf haben will, kann sich nehmen. Das war die Intention dieses Blogs von Anfang an und sie ist aktueller denn je. Und wenn der Eintopf die Vorbeigehenden mangels schmackhafter Themen oder schicker Aufbereitung nicht interessiert, ist es auch ok für mich. Ich koche diesen Eintopf gern. Das ist für mich mittlerweile Sinn genug - dass ich das, was ich tue, mit Liebe und Sorgfalt tue und Richter und Jury nicht mehr außerhalb von mir suche.

Die Themen TOD und STERBEN werden in nächster Zeit möglicherweise viel Platz einnehmen, unter anderem, weil ich eine meiner beiden Mütter bald auf ihrem Weg „zur letzten Tür“ begleiten werde (dürfen). Das Lebendige und Kostbare auf diesem Weg. Das Ende als notwendiger Partner des Anfangs.

Ziemlich aktuell werden diese weggesperrten Themen jetzt.

Danke für’s Aufwecken! Vielen lieben, herzlichen Dank, Herr H.!

Mitte April 22 bekam ich ein Mail mit folgendem Inhalt: „Ich interessiere mich für die Domain freygeist.at. [ … ] Da die Homepage, auf welche die Domain verweist, den Eindruck macht das diese nicht mehr aktiv gepflegt wird, wollte ich höflichst anfragen, ob die Möglichkeit besteht diese Domain zu übernehmen?“

Es fühlte sich an, als würde ein Schwall pürierter Eiswürfel in meinem Gesicht landen. Meine entsetzte Antwort vom gleichen Tag: „Nein, die Möglichkeit besteht nicht. Ich werde in nächster Zukunft wieder aktiver sein.“

Aber der Alltag bzw. das tägliche Drunter-und-Drüber, das in Zeiten wie diesen mehr Hiobsbotschaften als Entwarnungen parat hat und mit dem, was ich als europäisches Wohlstandsbürgerlein vor Corona und dem Ukraine-Krieg unter Alltag verstanden habe, so gut wie nichts mehr zu tun hat, überrollte das Mail samt Eiswürfelpüree und ich vergaß es.

Heute in Allerherrgottsfrüh war ich wie üblich auf meinem Hausberg(lein) in den Weinbergen unterwegs. Es war traumhaft schön und gespenstisch still. So still, dass ich mitten in meiner Atemübung stecken blieb. Die eingeatmete Luft steckte im Hals, die ausgestreckten Arme steckten in der Luft. Kein Autolärm aus dem Tal (das ist am Sonntag ganz natürlich und sehr erfreulich). Kein Flugzeuggebrumm vom Himmel. Kein einziges noch so kleines Fliegerlein zwischen 7 und 8 Uhr am ersten Sonntag nach Schulschluss, weder im Anflug auf den Flughafen Schwechat noch beim Aufsteigen noch sonst irgendwo im Blitzblau, der Luftraum leer, nur bei ganz genauem Hinhören ein verschüchtertes Brummen irgendwo ganz weit weg. Nach 8 Uhr entdeckte ich dann eins, zwei … drei!

Etwas ist jetzt GANZ anders. So anders, dass es kein Zurück mehr gibt.

Ist das schlecht? Beängstigend ist es. Drohend ist es. Fremd. Wie Sterben. Wir werden aus unseren alten Geborgenheiten hinausgeworfen. Wohin?

Nicht nur SPANNEND. Wird eine Zeit der „Obdach-Losigkeit“. Jeder, wie er will und kann. Namen gibt es viele für die, die (unfreiwillig oder freiwillig) unterwegs sind ins Unbekannte. Jedenfalls ein Abenteuer, an dem wir Gefallen finden werden müssen.

Ja, Herr H., ich behalte die Domain freygeist.at. Aber Sie haben Recht. Ich muss sie wieder nützen.

In den letzten Jahren habe ich für Flüchtlinge und Migranten §§ geschaufelt. Dieser Lebensabschnitt ist jetzt vorbei. Mit 66 ist es genug. Kein Platz mehr für die grauen Galgenbäumchen (= mein Spitzname für §). Mein Kopf ist wieder frei.

Wessen Symbol ist die Maske,

die dir und mir und jedem von überall aus mittlerweile fast jedem Gegenüber entgegenstarrt?

Es wird immer deutlicher, immer greifbarer. Das Prinzip, das die Welt regiert. Zeigt sich. Jeder kann es sehen.

Gehört Schweigen auch dazu?

Zum Schreiben ?

Wie die Leere des Papiers zwischen den Pinselstrichen?

Wie die Müdigkeit nach einem Nachtdienst in der Notschlafstelle und der anschließenden Vorbereitung eines jungen Ehepaares (sooooooo lieb) aus Afghanistan auf die Verhandlung nächste Woche vor dem Bundesverwaltungsgericht?

Unbedingt.

Superkonzert in einer Notschlafstelle

Ein Live Music Now Konzert.

Live Music Now wurde in den 70er Jahren von Yehudi Menuhin gegründet und organisiert eintrittsfreie Konzerte in Krankenhäusern, Altersheimen, Flüchtlingslagern, Gefängnissen etc., also überall dort, wo Menschen leben, die selbst nicht ins Konzert gehen können, für die aber Musik hilfreich sein kann. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, auf höchstem Niveau interpretierte Musik an ein möglichst großes Publikum heranzutragen, das nur schwer Gelegenheit hat Musik zu hören, und jungen Musikern (bis zum Alter von 29 Jahren) die Möglichkeit zu geben vor Publikum aufzutreten und ihre Fähigkeiten dabei zu entwickeln.

Zwei junge, engagierte Künstler, Akkordeon und Saxophon. Herrliche Musik. Ein begeistertes Publikum. So funktioniert MITEINANDER.

Es wäre so einfach, könnte ich mich für eine Seite entscheiden

Dann könnte ich zufrieden in mir ruhend sagen: Ja. Ich bin Flüchtlingshelferin. Ich bin eine von den Guten, die darauf schauen, dass der Rechtsstaat ein Rechtsstaat ist und bleibt, dass die Menschenrechte geachtet werden, dass die Flüchtlinge ein faires Verfahren und den ihnen zustehenden Status bekommen und beschützt werden vor der Inkompetenz der Sachbearbeiter des BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl).

Aber in dem Augenblick, in dem ich daran denken würde, das zu sagen, würde mir unsere eigene dürftige Kompetenz um die Ohren fliegen, die auf Seiten der vielen jungen Leute, die sich in diesem Bereich engagieren, zwar gepaart ist mit unheimlich viel Liebe und bewundernswerter Hingabe, das juristische know how in diesem asylrechtlichen Gestrüpp hält sich bei vielen aber in recht engen Grenzen. Und bei mir entdecke ich zusätzlich, dass mir auch die Liebe fehlt und die Hingabe. Ich ertappe mich vielmehr dabei, dass ich den Leuten ihre Geschichten nicht glaube oder, dass ich sie zwar glaube, mir aber denke: Na und? Wieso sollen wir in Europa es ausbaden, wenn sich in Afghanistan die Leute wegen ein paar m2 Steinwüste in einem Familienkrieg umbringen? Und dann gibt es auch die, die ich nicht verstehe und nicht achte, wie z.B. den jungen Mann heute, der eine Frau einer anderen Volksgruppe heiratet, obwohl er weiß, dass das in dem Land, in dem er zuhause ist, für seine ganze Familie lebensgefährlich ist. Ergebnis dieser Heirat (wenn seine Geschichte stimmt): Vater und Bruder wurden entführt (und getötet?), er ist mit Frau und Mutter und Schwägerin samt Kindern in den Nachbarstaat geflohen, wo die Frauen und Kinder jetzt ausharren müssen, während er hier als Flüchtling anerkannt werden will. Wenn ihm das gelingt, kann er seine Frau nachholen und hier mit ihr in Ruhe und Freiheit leben. Seine Mutter hingegen und seine Schwägerin mit Kindern dürfen ohne Mann und ohne Vater irgendwo im Nirgendwo den Rest ihres Lebens verbringen … Aber es gibt natürlich auch die, deren Geschichte ich glaube und die ich achte, wie z.B. die alte abgearbeitete Frau mit Kopftuch gestern, die zwischen ihrer in Österreich als Flüchtling anerkannten Tochter und ihren Söhnen in Tschetschenien langsam aber sicher aufgerieben wird.

Ich möchte so gern an das Gute im Menschen glauben … auch an das Gute in mir. An die Liebe in mir möchte ich glauben! Ich fürchte, das wird eine lebenslängliche Illusion bleiben. Wir sind alle miteinander ziemlich menschliche Menschen, fürchte ich.

Ich werde nie ergreifende Flüchtlingsgeschichten schreiben können, Samuel T. Auch wenn ich weiß, dass ihr mit und ohne Lügen das Recht habt, unsere scheinheilige Idylle über den Haufen zu rennen.

Zeit, wieder zu schreiben?

vielleicht …

Gestern habe ich gelesen, Theresa aus Kalkutta habe gesagt: “Man kann nicht lieben, bevor es nicht auf eigene Kosten geht.”

Heute sitze ich vor meinem Sonntagsfrühstück mit weichem Ei, Käse, Biotopfen, bade in sauteuren Kirschen, Erdbeeren, Pfirsichen, Tomaten und mein Blick fällt auf das kleine Glas mit der noch sauteureren Marmelade mit Apfelsaftkonzentrat gesüßt …

Ich schäme mich.