Wie ist es, wenn man überall sein kann?

Du bist jetzt am Friedhof, wo mein Bruder vor deinem Grab steht, und hier bei mir. Davon bin ich überzeugt. Oder du bist nirgendwo.

Muss eine gewöhnungsbedürftige Erfahrung sein. KEINE GRENZEN mehr. Man kann überall hin, überall hinein. Keine Tür ist mehr verschlossen. Kein Berg zu hoch. Kein Dickicht zu dicht. Kein Wald zu unheimlich. Es gibt KEINE GEHEIMNISSE mehr.

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Siehst du jetzt mehr als du sehen willst? Hörst du mehr, als dir lieb ist? Kannst du dich jetzt noch vor irgendetwas wegducken? Dir die Ohren zuhalten, wenn du ein Gespräch hörst, das du viel lieber nicht hören würdest?

Du kannst jedenfalls nirgendwo mehr eingreifen. Dieser Zug ist abgefahren. Das dürfte manchmal schwer auszuhalten sein, oder? Sehen, was ist, und nichts mehr tun, nichts mehr ändern können, obwohl du jetzt vielleicht weißt, was zu tun (gewesen) wäre, zuhören und nichts mehr erwidern können.

Du kannst dir jetzt nur mehr denken: „Hätte ich doch …“ Du bist jetzt draußen vor der Tür, obwohl es keine Tür mehr für dich gibt.

Seit fast 4 Monaten bist du jetzt tot.

Und ich kann mir immer weniger vorstellen, dass ich deine kleine Gestalt nie mehr sehen werde, deine tolle „Einsteinfrisur“ in der Früh beim Frühstück, dein liebes, altes Gesicht, dein warmes Lächeln. Dass sich deine schöne, faltige Hand nie mehr auf meine legen wird. Dass ich dein „O mei, Dianei!“ nie mehr hören werde.

Als ich einer Bekannten davon erzählte, dass ich dich immer mehr statt weniger vermisse, meinte sie, ihr sei es nach dem Tod ihrer Mutter auch so ergangen. „Nach einem Jahr hatte ich das Gefühl, ich halte es gar nicht mehr aus.“

VIEL LICHT FÜR DICH! VIEL WÄRME!

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Geht es dir gut?

Deine zwei Kinder fallen auseinander wie dein Körper. Da ist nichts mehr zu machen. Das ist sicher nicht schön für dich anzuschauen. Aber es ist so. Eigentlich war es immer schon so. Du wolltest nur nie etwas davon wissen.

Das ist der Nachteil, wenn man tot ist. Man kann die Augen vor unangenehmen Wahrheiten nicht mehr schließen.

Auf den Friedhöfen wird es jetzt hektisch.

WARUM?

Warum versammeln wir uns in diesen Tagen vor fauligen Überresten, vor stinkenden oder nicht mehr stinkenden Knochen oder vor kalter Asche, über die wir in den Tagen zuvor Stechlaub, Mistelzweige und frische Blumen gebreitet haben? Wieso kaufen wir Berge von weißem und rotem Plastikmüll, den wir zwischen den Blumen und Zweigen verteilen, um in jedem Stück Müll einen Docht zu entzünden, der aus einer gelblich weißen Masse herausragt und je nach Größe dieser Masse bis zu 48 Stunden (oder auch länger) müde vor sich hin flackert, während sein milchig weißes oder rotes Outfit Jahrhunderte zum Verrotten brauchen wird?

Wem bedeutet das WAS?

Ich habe diesen Friedhofskult schon als Kind nicht verstanden. Allerheiligen und Allerseelen waren die zwei trostlosesten Tage im Jahr. Nett und adrett und neu eingekleidet, geschniegelt als Teil der allgemeinen Herbstmodenschau am sogenannten „Hof des Friedens“ über eine Stunde lang wie angewurzelt in der Kälte stehen, manchmal schon im Schnee, die nagelneuen Stiefel noch kein bisschen ausgeleiert, entweder stumm wie ein Holzklotz oder notdürftig und widerwillig die vielen “Vater unser” und Rosenkränze mitleiernd mit dem leiernden Gewabble, das sich über den Gräbern ausbreitet wie aschgrauer Griespudding und zu Allerheiligen von hunderten “Bitt für uns” durchlöchert wird, und keine Ahnung haben, wozu dieses triste Getue und aufdringliche Gebitte gut sein soll, außer dass vielleicht den Würmern auch noch der Appetit vergeht.

Kein Verstorbener kann diese trübe Prozedur wollen. Da bin ich mir heute noch genau so sicher wie als Kind.

LIEBE. LICHT. Eine weiße, brennende Kerze. Warme Gedanken. Ein Platz im Herzen. Das würde ich wollen.

Wenn der Herbst wahr ist …

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ist Sterben leicht wie eine Feder

ganz und gar keine traurige Angelegenheit

eine Orgie eher

bei der jeder nur ein leichtes Gewand trägt

oder (fast) keines.

It’s going to be an interesting time

los-lassen

los-lassen

los-lassen

das Gerümpel

das Unnötige

das Überflüssige

das schon faulig Stinkende

den Zuckerguss

das Viel zu viel, das das wenige Wichtige überdeckt und unsichtbar macht

die massenhaften Ängste

die Billionen Wehleidigkeiten

den Ozean an Faulheiten

die Fettpolster an Geld, Immobilien, Wertanlagen

die hundert Anker, die uns am Aufbruch hindern, am Weitergehen, die uns festbinden und -halten in unserem überbrauchten WOHLSTAND, in unserem heißbegehrten Wachstum an Übergewicht und schwabbeliger Unbeweglichkeit.

ENTSCHLACKUNG ist das Wort der Stunde. Freiwillig oder unfreiwillig.

Ein bisschen Sterben, damit ein bisschen Leben wieder möglich wird.

Entschlackung

Damit ich meine Herbst- und Winterhosen wieder anziehen kann.

Heute Morgen, nachdem ich auf der Waage gestanden war, um zu schauen, wie viel ich in den letzten drei Tagen abgenommen habe, dachte ich: Es ist irre. Wir in den reichen Ländern müssen fasten, wenn wir gesund bleiben und halbwegs annehmbar ausschauen wollen, viele rennen durch die Gegend wie lebende Tonnen, unendlich viele werden krank vom vielen Essen, sterben an den Folgekrankheiten, während Millionen und Millionen Menschen anderswo hungern, verhungern, ihren Kindern beim Verhungern zuschauen müssen und nichts dagegen tun können. Wir sind entweder blind oder tot oder irrsinnig. Unmenschlich in jedem Fall.

Solche Gedanken werden sehr klar bei einer Reinigung. Erbarmungslos klar.

Wir zwei haben VIEL erreicht, Oma!

Ich war sicher nie eine Tochter, wie du sie gern gehabt hättest und du warst keine Mutter, wie ich sie gern gehabt hätte. Alles andere als das. Du warst für mich, die ich dem Dienstmädchen (zum Glück dem liebevollsten auf der Welt) zur Betreuung und deinen Eltern zur Erziehung zugewiesen war, eine kalte, unerreichbare Fremde. Als ich mit 14 Jahren mein Elternhaus, in dem ich jetzt sitze und schreibe, verließ, tat ich es mit riesengroßer Freude und empfand das Internat, in das ich geschickt wurde („um eine standesgemäße Erziehung zu erhalten“), im Vergleich dazu als Paradies und die anschließenden Studienjahre als Freiheit pur. Mit meiner unterkühlten, nur auf Titel, Stand und Ansehen bedachten Familie wollte ich nur mehr so viel zu tun haben, wie unbedingt notwendig war. Ich dachte nie, wirklich nie an dich und fuhr nur „nach Hause“, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

Aber du warst hartnäckig. Du hast den Kontakt nie ganz abbrechen lassen, du hast dich um mich aus der Ferne bemüht und gekümmert, obwohl du von mir nie ein Danke dafür gehört hast, und auf diese beharrliche Weise hast du mich im Lauf der Jahrzehnte so weit in deine Nähe geholt, dass wir es geschafft haben, die hunderttausend Knöpfe zwischen uns aufzulösen und zwar so, dass am Schluss keiner mehr übrig war. Dieser Prozess hat 66 Jahre gedauert, aber wir haben es geschafft! Ohne einen gegenseitigen Vorwurf durften wir das letzte Stück deines Weges miteinander gehen und uns in gegenseitiger Achtung, gegenseitigem Verstehen und Liebe voneinander verabschieden.

Wir haben miteinander Frieden schließen können, Oma! Das grenzt für mich an ein Wunder und ist VIEL wertvoller als irgendein Erbteil.

Vor ein paar Jahren noch hätte ich mir das nicht vorstellen können, vor einigen Monaten noch hatte ich Angst, dass an deinem Sterbebett möglicherweise irgendwelche tief vergrabenen, nie an die Oberfläche gelassenen furchtbar finsteren Gedanken, Gefühle aus mir hervorbrechen könnten. Aber da war nichts mehr, nur Achtung, Verständnis und Liebe.

Omalein, DANKE für alles! Wir sind beide winzige Menschen, aber wir haben uns sehr bemüht. Du mehr als ich. Und wir haben es geschafft!!! Wir haben „die Kurve gekriegt“!!!

Ich glaube, dass es mir mit weniger (Geld) viel besser geht als mit mehr.

Hätte ich keine Kinder, wäre die Entscheidung, ob ich um meinen Erbteil streiten soll oder nicht, möglicherweise ziemlich schnell getroffen. Aber ich denke an meinen Sohn und was ich ihm als meinem Kind schulde und was er alles nicht bekommt an finanzieller Unterstützung und/oder späterem Erbe, wenn ich meine Forderungen jetzt herunterschraube oder ganz darauf verzichte.

Was schulde ich meinem Sohn? Schulden Eltern ihren Kindern, sie finanziell bestmöglich zu versorgen und mit Geldpolstern für Notzeiten auszustatten? Mein Kind lieben und versuchen ihm zu helfen, wenn es Hilfe braucht, kann ich auch mit wenig Geld. Es bekommt in diesem Fall sogar ein großes Stück mehr von mir, weil es mehr Liebe bekommt, weil ich mich mehr anstrengen muss.

Und wenn ich in mich hineinfühle, weiß ich, dass ich mich mit wenig Geld wohler fühle als mit mehr. Ein dicker Geldpolster würde mich und mein Gewissen irgendwann erdrücken. Ich müsste ständig an die Millionen und Millionen Menschen denken, alt, jung, ganz jung, gerade erst geboren, die rund um den Globus in Wellblechhütten oder Erdlöchern oder windigen Zelten vor sich hin (ver)hungern und (er)frieren oder flüchten und nirgendwo ankommen dürfen. Diese Last würde ich auf die Dauer ganz schlecht aushalten. Ich müsste mich von diesem Geldpolster trennen wie von einem Mühlstein. Ich könnte ihn nicht für meinen Sohn aufbewahren. Ich müsste ihn weitergeben.

Denn mein Sohn hat genug. Er lebt in einer reichen Gesellschaft mit hohen sozialen Standards, er hat reichlich zu essen und zu trinken und leider auch zu rauchen, er hat ein solides Dach über dem Kopf, er ist kranken- und haftpflichtversichert, er hat noch beide Elternteile, seine Lieblingstante, sonstige liebe Verwandte. Er hat sogar eine eigene Putzfrau (seine Mutter)! Was bitte braucht er mehr?

Und was ist, wenn das alles zusammenbricht, verdörrt, weggeschwemmt wird? Klimawandel, Putin, Nuklearkatastrophe, soziale Verwerfungen und Unruhen, vielleicht sogar Krieg? Alles leicht möglich. Dann müssen wir hungern, wie Millionen und Millionen es jetzt schon tun, und einander helfen, so gut wir können. Oder wäre es erstrebenswert, wenn wir uns dann aus dem Staub machen könnten, weil wir vorher das nötige Geld gehortet haben in unserem Käfig aus vorbeugender Angst und satter Bequemlichkeit?

Wenn wir leben sollen, wird das Leben dafür sorgen. (Franz von Assisi mit anderen Worten)

Aber wie kann ich weitergehen?

Das nächste Stück Weg ist mit so grauenhaften (W)Orten wie Erbschaft, Verlassenschaftsverfahren, Einantwortung (dieses Wort muss man sich auf der Zunge zergehen lassen) verbarrikadiert. Und dieses Stück müssen wir zwei Geschwister gemeinsam gehen.

Aber wie gehen zwei gemeinsam, wenn einer steht wie ein in die Erde gerammter Pflock?

„Nein. Ich brauche noch Zeit. Ich bin noch nicht so weit.“

„Nein. Lass die Finger davon!“

„Nein. Das kann alles noch warten. Wir haben überhaupt keine Eile.“

„Nein. Ich möchte jetzt noch nicht mit dir sprechen.“

HILFE!

Wie sollen wir uns einig werden? Unser Erbe ist einzig und allein ein Haus. Das können wir nicht einfach in der Mitte auseinanderschneiden und jeder geht mit seiner Hälfte seinen Weg. Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden.

Wie finden zwei gemeinsam eine Lösung, die als Kinder entweder getrennt gelebt haben oder wenn nicht, täglich mindestens einmal gerauft haben und die als Erwachsene am besten miteinander auskommen, wenn ganz Österreich zwischen ihnen liegt?

Verzicht wäre natürlich auch eine Option. Dann erspare ich mir das Affentheater … Es ist NUR Geld.

Drei Tage Papierkram. Suchen und etwas anderes finden.

Ob es vielen Erben so geht wie mir jetzt? Dass sie wohl glauben, zu wissen, was (nicht) da ist an Geld und sonstigem Vermögen, aber eben nur glauben zu wissen und deshalb dasitzen vor Papierbergen, niemand mehr fragen können und Ordner um Ordner, Papierstoß um Papierstoß, Schublade um Schublade durchwässern auf der Suche nach …?

Wie sorgfältig sie war. Wie genau ihre Buchhaltung. Bis vor etwas mehr als einem Jahr hat sie noch selber Buchhaltung gemacht. Allein. Vor einem Jahr war sie 99 Jahre alt. Eine erstaunliche Frau.

Zwischen Steuererklärungen, Rechnungen, Kontoauszügen plötzlich das eine oder andere ganz Andere, das freundlich herausblitzt aus diesem grau in grau und die eingeschlafenen Lebensgeister wieder befeuert, wie etwa der irische Reisesegen, den wir vor dem Begräbnis gesucht haben wie eine Nadel im Heuhaufen und dessen letzte Strophe lautet:

„Weich sei die Erde, wenn du auf ihr ruhst, müde am Ende des Tages. Und leicht ruhe die Erde auf dir, am Ende deines Lebens, dass du sie am Ende leicht abschütteln kannst und auf und davon gehen auf deinem Weg zu Gott.“

Sie hat alles aufgehoben. Wie ein Hamsterlein. Sogar am Dachboden gibt es noch massenweise Ordner, die ich allerdings nicht antaste. Mir genügt das, was ich in Schubladen und Kästen finde. Sie hätte Bücher schreiben können über ihr Leben im Krieg und später als Flüchtling und hungernde Studentin im Wien der Nachkriegsjahre.

Am Ende dieser drei Tage habe ich keine versteckte Million gefunden, nur ein Bündel wertlose Aktien, aber ich habe VIEL gelernt über die Frau, die unter anderem meine Mutter war. Ich bin ein bisschen kleiner und sie ist ein bisschen größer geworden.

Es ist so wichtig für mich, mir Zeit zu nehmen DAFÜR. Den Menschen, der meine Mutter war, zu entdecken und so viel wie möglich von dem, was ihn ausgemacht hat, an mich heranzulassen, zu berühren, begreifen mit meinen zehn Fingern, auch die Teile, die ich als sein Kind nie kennengelernt habe.

Und diesen Menschen dann in Frieden gehen lassen. Und selber weiter gehen.

Keine Berührungsängste.

Ich trage deine Jacken, T-Shirts, Schuhe, Haus- und Trainingsanzüge, die eine oder andere Bluse. Diesmal habe ich kaum eigenes Gewand mitgebracht. Du warst eine sehr elegante Frau. Und ich mag sehr legere Kleidung. Ich fühle mich wohl in vielen deiner Sachen, angenommen und willkommen.

Am späteren Abend, wenn es kühl wird im Salzburger Gebirgstal, noch dein wollenes Gössl-Schultertuch. Das kratzt ein bisschen am Hals. Das werde ich mir für den Winter aufbehalten.

Deine Ohrringe und meine Ohren.

Glaubst du, das ist ein gutes Gespann? Ich trage seit 40 Jahren keine Ohrringe mehr. Und jetzt baumeln plötzlich mehr als 100 Jahre alte daran.

Beim Telefonieren klappert es.

„Guten Morgen, Omalein! Jetzt gibt’s Frühstück!“

In den ersten Tagen rede ich viel mit meiner Mutter (ich sage seit 40 Jahren Oma zu ihr, seit mein Sohn auf der Welt ist). Es fühlt sich ganz normal an. Kein bisschen komisch.

Sobald es am Abend dunkel wird, Kerzen. Ganz wichtig. Ich schlafe gut.

Zwei Wochen später bin ich wieder da. Beim Grab. Im Haus.

Allein. Wie an einem Gummiband hat es mich hergezogen. Auch wenn ich mich ein bisschen fürchte. Was erwartet mich? Wie mutterseelenallein werde ich in diesem Haus sein?

Gar nicht. Ich bin willkommen. Eine feine, warme, heimelige Atmosphäre.

Das Grab ist jetzt kein Hügel mehr. Es ist schon eingeebnet und hat eine hölzerne Umrandung. Blumen. Kerzen.

Gut ist es hier. Hier ist jetzt mein Platz. Schauen. Fühlen. Spüren. Aufmerksam sein. Offen für das, was ist. Hier. In mir. Rundherum. Fragen stellen. Antworten bekommen. Wenn es sein soll, heulen. Wenn es sein darf, glücklich sein. HIER SEIN. Mit allem, was hier ist.

Wie mein Bruder das macht, ist mir schleierhaft. Er wird erst zu Allerheiligen wieder hierherkommen. Bis dahin habe ich abgeschlossen, was er noch nicht einmal angefangen hat.

Wir sind so verschieden wie Tag und Nacht. Deshalb können wir auch nicht miteinander. Wie soll das gehen mit dem gemeinsamen Haus?

Eine Fürbitte,

die ich in der Kirche nicht gelesen habe:

In den letzten Jahren deines Lebens warst du sehr einfach und bedürfnislos. Eine Scheibe Butterbrot und ein Häferl Kaffee. Das war dir etwas vom Allerliebsten. Dafür warst du anderen gegenüber ungeheuer großzügig. „Man muss noch mit warmen Händen geben“, hast du gesagt.

Möge die Liebe dir diese Großzügigkeit ebenso großzügig mit Liebe vergelten. Das wünsche ich dir.

Und mögen die Bedürfnislosigkeit und Großzügigkeit, die du mir in den letzten Jahren vorgelebt hast, in mir weiterleben. Das wünsche ich mir.

Das Begräbnis

war ein Begräbnis. An dessen Ende ein tiefes Loch in der Erde, darin ein Sarg, darin ein Körper. Erde wird hinuntergeworfen, Blumen, Weihwasser gesprengt. Tränen. Dann verlassen alle den Friedhof. Die Verwandten und geladenen Trauergäste sitzen bei Traumwetter unter weißen Sonnenschirmen und ausladenden Baumkronen in einem Gastgarten und bekommen vor dem ersten Gang des Trauermahls ein Glas Sekt serviert, während der Totengräber am Friedhof das Loch über dem Sarg mit der Erde füllt, die er tags davor daraus entnommen hat, die Blumen und Kränze über dem Erdhügel verteilt und das Holzkreuz aufstellt.

Am Abend dieses Tages ist es leer im Haus unserer Mutter. Leer, leer und leerer als leer. Und eiskalt. Die notdürftige Gemeinsamkeit ihrer beiden Kinder wie vom Wind verweht. Als wäre sie mit ihr begraben worden. Die gemeinsame Aufgabe ist getan. Das Bindeglied der letzten Jahre liegt am Friedhof. Es reicht nicht einmal für ein gemeinsames Abendessen. „Nein danke. Wir haben keinen Hunger.“ Etwas Dunkles am Horizont. Sein Name beginnt mit E. Es ist. Unglaublich. Lächerlich.

Und traurig.

Und erschreckend. Die ganze Prozedur der letzten Tage, dieser unglaubliche Aufwand nach außen, diese prächtige Abschiedsvorstellung. Und wenige Stunden später „zuhause“ Funkstille, Kälte und etwas Dunkles. Das ist wie ein Bild unserer Familie, so, wie ich sie seit meiner Geburt kenne und seit ich denken kann, ablehne. Wichtig (nur) die schöne Oberfläche, außerordentlich gepflegt, wunderbar aufpoliert mit Titeln und Silberputzzeug. Darunter …

Am nächsten Tag fährt der eine nach Osten, der andere nach Westen. Haus und Grab bleiben. Zum Glück gibt es liebe Menschen, die sich darum kümmern.

Der Tag in der Aufbahrungshalle

ist ein guter Tag. Der mit Abstand beste und eindrucksvollste Tag der Tage vor dem Begräbnis.

Dieser Tag ist ein Rest vom alten Brauch der Totenwache. Und ich vermute, es gibt ihn nur mehr am Land und auch am Land längst nicht mehr überall und auch dort, wo es ihn noch gibt, gibt es viele, die damit nichts mehr anfangen können.

Wir sollten auf diesen letzten Rest der Totenwache gut aufpassen und ihn bewahren. Er ist wertvoll.

Der Verstorbene kommt endlich dorthin, wo er hingehört. In den Kreis seiner Familie, die den ganzen Tag lang bei ihm wacht, während die Menschen aus dem Ort und der Umgebung kommen (können), um sich zu verabschieden.

Der Sarg mit den Blumengebinden steht erhöht zwischen hohen, brennenden Kerzen. Davor ein Foto des Verstorbenen und Weihwasser zum Sprengen. Im Hintergrund leise Musik oder auch nicht, Texte zum Meditieren oder auch nicht, zwischendurch Gebete oder auch nicht.

Im Lauf des Tages baut sich in diesem Raum eine ganz besondere Atmosphäre auf. Besonders für die, die Stunde um Stunde um Stunde um Stunde hier verbringen. Für mich war es wie eine Kuppel aus sanftem Licht, Frieden, Ruhe, Wärme, Geborgenheit und etwas Heiliges war auch dabei. Liebe.

Es ist wie am Sterbebett sitzen. Oder an einem Meditationszyklus teilnehmen. Man muss sich darauf einlassen. Dann kann es eine außerordentlich kostbare Erfahrung werden.

Die Zeit zwischen Tod und Begräbnis

ist über weite Strecken eine Josef-Hader-Kabarett-taugliche Zeit. Er könnte Stadthallen mit diesem Thema füllen. Die Zuschauer würden noch Tage später Bauchweh vom Lachen haben. Er müsste nichts aufpolieren. Nur die splitternackten Fakten erzählen. Mit seiner Stimme. Dazu sein Gesicht wäre ein Traum.

Wir waren glücklicherweise wenigstens zu zweit bei diesem Run durch den Dschungel der Kompetenzen von Bestattungsunternehmen, Standesamt, Pfarrkanzlei, Pfarrer, Gemeinde, Totengräber und Steinmetz. Für Neulinge auf diesem Gebiet ist es ein hartes Stück Arbeit, abzuklären, wer welchen Handgriff wann tut, damit sich nicht irgendwo zwischendurch ein kompetenzloses Loch auftut, in dem der Verstorbene verschwindet oder vor dem er abgelegt wird, weil niemand da ist, der für den nächsten cm des Weges bis „in die Grube“ zuständig ist

Erschwerend kam bei uns noch dazu, dass wir uns diverse Eier selber legten. Aber es musste ja alles perfekt sein, durchgestylt wie das Menü eines Haubenkochs.

So hatten wir einen Priester für die Messe gewählt, der unserer Familie nahesteht, aber erstens nicht der für den Ort zuständige und zweitens schon in Pension und bis zum Tag vor dem Begräbnis in Italien auf Urlaub war. Das führte dazu, dass der Priester vor Ort zwar sehr hilfsbereit und freundlich war, in der Sache selbst aber immer wieder sagen musste: „Das müsst ihr bitte mit eurem Priester abklären.“ Der aber nicht erreichbar, weil im Urlaub war …

Dazu kamen der Blumenschmuck, die verschiedenen Sorten von Musik, die Gestaltung des Lebenslaufes, die Formulierung der Fürbitten, damit verbunden die innerfamiliäre Diskussion, wer was (nicht) liest, die verzweifelte Suche nach einem ganz bestimmten irischen Reisesegen, der aber weder im Internet noch sonstwo aufzutreiben war, die Organisation der Sargträger, des Kreuzträgers, des Vorbeters samt Rosenkranztermin (in dieser Gegend ist Rosenkranzbeten bei Teilen der älteren Generation noch wichtig und war es auch für unsere Mutter), nicht zu vergessen das feudale Totenmahl, ganz wichtig auch das passende Gewand kaufen oder sich schicken lassen … und natürlich massenhaft Telefonate führen und möglichst blitzartig die Parte gestalten und verschicken, nachdem alle Termine fixiert und alle Adressbücher gesucht, einige gefunden und diese durchgeackert waren, und zwar so frühzeitig, dass die Empfänger auch die Chance hatten, zum Begräbnis anzureisen, wenn sie wollten.

Wir hätten einiges einfacher machen können. Aber wir wollten, dass alles schön und so wird, wie unsere Mutter es sich vielleicht gewünscht hätte. Hätte sie sich das alles gewünscht? Sie hatte sich sehr verändert im Lauf ihres langen Lebens, war sehr einfach geworden, bescheiden.

Und wo war sie eigentlich, während wir mit der Choreographie ihrer Abschiedsvorstellung beschäftigt waren? Weit weg in einem Kühlraum. Zuerst im Kühlraum des Krankenhauses, dann in dem der Bestattung. Erst am Tag vor der Aufbahrung wurde der Körper herausgeholt, schön angezogen („Entschuldigen Sie die Frage: Ihre Mutter hat noch drei Ringe an den Fingern. Sollen wir die herunternehmen?“ „Um Himmels Willen! Nein!“) und in den Sarg gelegt, der sofort verschlossen wurde und anschließend nicht mehr geöffnet werden konnte. Am Morgen des Aufbahrungstages wurde der Sarg in die Aufbahrungshalle gebracht, wo die Gärtnerei schon mit dem Blumenschmuck wartete und Kerzen und Weihwasser und Sonstiges.

Meine Großeltern waren noch drei Tage lang bei uns zuhause aufgebahrt worden. Offen. Jeder konnte sie anschauen. Berühren. Undenkbar unhygienisch …

Noch früher hielten die Nachkommen drei Tage und Nächte lang Totenwache bei den Verstorbenen. Noch undenkbarer …

Und was ist mit den Traditionen und alten Schriften, die sagen, dass sich die Seele eines Menschen erst drei Tage nach dem Tod des Körpers ganz von diesem lösen kann? Alles Humbug?

Wenn mein Bruder und ich in diesen Tagen am Abend hundsmüde in halbwegs trauter Zweisamkeit am Balkon saßen, grübelten wir oft, wie es unserer Mutter jetzt wohl gehen mochte … allein, weit weg, in einem Kühlraum. Der Gedanke war SEHR unangenehm. Tröstlich war nur das Wissen, dass sie dieses Schicksal mit allen Verstorbenen der zivilisierten westlichen Welt teilt.

GUT waren in dieser Zeit die Spaziergänge, die vielen brennenden Kerzen, einzelne Gespräche und die zwangsläufige Gefahrengemeinschaft und gegenseitige Rücksichtnahme zweier seit Kindertagen auf Konfrontation programmierter Geschwister.

Zwei Vogerln am Balkongeländer

Am nächsten Morgen in der Früh geht es gleich weiter mit den überreizten Nerven. Es ist saukalt im ganzen Haus. Mein lieber Bruder ist Frischluftfanatiker, daher sind so gut wie alle Fenster und die Türen zum Balkon offen. Draußen hat es 8 Grad, sagt mir ein Blick auf das Außenthermometer … wir befinden uns in einem Salzburger Gebirgstal. Ich flitze von einem Fenster zum nächsten, mache mir keine Mühe, sie leise zuzumachen, man kann im oberen Stockwerk, wo die andern noch schlafen, ruhig hören, dass mir kalt ist, knalle die zwei Balkontüren zu und flitze weiter zum Küchenfenster, dessen Schließvorrichtung klemmt und beim raschen Zumachen lautstark einrastet. Dabei fällt mein Blick auf das Balkongeländer vor dem Küchenfenster. Dort sitzen zwei kleine Vogerln, aneinander gekuschelt, zwei aufgeplusterte Federbällchen, die sich aneinander reiben und gegenseitig wärmen, die Köpfchen bewegen sich lebhaft, die Schnäbel gehen unentwegt auf und zu, sie müssen sich viel zu sagen haben. Mein Fenster- und Türenknallen stört sie so wenig wie ich, obwohl ich sicher nicht weiter von ihnen entfernt bin als zwei Meter und mich ungeniert bewege.

„Hat er sie abgeholt?“ geht es mir durch den Kopf. „Wollen sie mir das jetzt sagen?“ Ich bewege mich noch mehr, um zu schauen, ob sie wegfliegen. Sie bleiben sitzen.

Hintergrund meiner Frage(n): Ich hatte tags zuvor am Sterbebett meiner Mutter meinen längst verstorbenen Vater gebeten (genauer gesagt: von ihm vehement gefordert), sie abzuholen, denn sobald ER an ihr Bett treten und sagen würde „Komm!“, würde sie ohne Zögern und Angst gehen, sie würde mit Freude durch diese letzte Tür rennen.

Jetzt saßen die zwei Vogerln da. Wie aneinander festgewachsen und am Balkongeländer angeklebt. Nachdem ich ihnen eine Weile zugeschaut hatte, holte ich mir eine Jacke. Es war wirklich saukalt. Als ich zurückkam, waren die beiden weg.

Nach dem Frühstück ging ich auf den Friedhof und zündete am Grab meines Vaters eine Kerze an.

Zugeprostet!

Nachdem sie am Nachmittag gestorben war und ich den Familienrummel und das Kindergeschrei beim Abendessen irgendwie überlebt hatte, flüchtete ich in die Stille eines Spaziergangs (im Schneckentempo) an der Salzach, danach ins Geschirrabwaschen und Putzen der Küche und dann zu den Schnapsflaschen. Ich griff mir den Marillenschnaps, füllte das (Schnaps)Glas bis zum Rand, stellte die Flasche zurück, drehte mich um und … da lachte sie mich an, so lieb und strahlend, ein Weinglas in der Hand prostete sie mir zu. Von einem Foto aus, das eingerahmt auf der Kommode gegenüber dem Kasten mit den Spirituosen stand. Irgendwie muss wohl das Licht so auf das Foto gefallen sein, dass ihr Gesicht ganz hell und warm leuchtete. Ich starrte in die unglaubliche Wärme dieses Gesichts, auf einem Foto, das mir bisher überhaupt nicht gefallen hatte, sah ihr Lachen, ihr Weinglas, das sie mir zum Anstoßen entgegenhielt. „Prost!“

Die überreizten Nerven. Ich weiß. Nein. Ich weiß nichts. Ich fühle. Wärme.