10 Tage später (nur gemeinsam zu lesen mit 1. bis 6. Tag)

Am 21. Juni habe ich Fabian Robu das Mail mit der Einladung von Beatbox und Georgeta geschickt.

Am 22. Juni habe ich seine Antwort bekommen. Sie lautet NEIN. Begründung:

Sie haben beide einen Program im Haus und ist nicht möglich dass sie einfach nach Österreich fliegen.”

Am 22. Juni habe ich Ruth Zenkert das Mail mit der Einladung von Beatbox und Georgeta geschickt.

In den letzten 6 Tagen habe ich mir die 6 Tage Bukarest von der Seele ins Web geschrieben, wie sich das für einen “Straßenmenschen” gehört. Ich habe dabei unendlich viel Wertvolles entdeckt. Das Holzstück von Florin hat seinen Platz bei mir gefunden, er ist beim Schreiben in der Innenfläche meiner linken Hand.

Für FLORIN und GEORGETA:  

ALLES LIEBE FÜR EUCH! VERGESST EURE TRÄUME NICHT! ICH VERGESSE EUCH NICHT …

Tag 6 (20. Juni 2010)

Fünf vor neun. Die Reisetasche fix fertig am Bett, der Rucksack.

09:00 Uhr Kapelle. Fast leer. Ein Gefühl wie in den Straßen Wiens am Sonntag. Kein Fabian, kein Lucian, keine Stefanie, keiner der sonstigen Concordia-Mitarbeiter bis auf den immer und ewig andächtigen PC-Mann, kein Volontär. Emma, die junge Frau aus Deutschland, eine Hand voll „Kinder“ und ich. Heute ist Sonntag vom täglichen Sonntag. Florin sitzt hinter dem Altar (warum wer wo sitzt, habe ich in diesen wenigen Tagen nicht durchschaut), strahlt mich an, winkt, ich soll mich neben ihn setzen. Ich winke ab. Ich sitze nicht hinter dem Altar, ich sitze vorne, ich gehöre zum/ins Publikum. Die Andacht ist ungewohnt kurz. Nicht einmal Fürbitten. Plötzlich ist sie fertig, die wenigen Leute, die da sind, stehen wie üblich der Reihe nach auf, gehen hinaus. Florin bleibt sitzen, er „beatboxt“, Christi begleitet ihn auf der Gitarre. Es ist eine leise, vorsichtige Melodie, schön. Emma bedeutet mir im Vorbeigehen: „Für dich.“ Will mich der hübsche Junge einkochen oder ist er wirklich so umwerfend lieb?

Frühstück. Nur ein Tisch besetzt. Würstchen. Mein Abschied. Christi ist wieder mein Dolmetsch. Keine Hetze gegen Concordia, da ich den Text noch habe, hier ist er: Ich bin erst seit wenigen Tagen hier, aber ich habe euch und die jungen Leute im Laza in dieser kurzen Zeit sehr lieb gewonnen. Ich würde sehr gerne hier mitarbeiten, mich und meine Zeit völlig unentgeltlich zur Verfügung stellen, mit euch zusammenleben, von euch lernen (Gemurmle) und euch von mir mitgeben, was ich zu geben habe. Aber es gibt ein Problem. Ich passe nicht in das engmaschige (das Wort kann Christi nicht übersetzen, wir haben einen kurzen Knopf, dann machen wir ohne engmaschig weiter) Netz der Concordia-Regeln. Ich bin schon zu erwachsen um mir jeden Schritt, den ich tue, vorgeben und Schritte, die ich für sinnvoll und notwendig halte, verbieten zu lassen. Ich war, als die Entscheidung gefallen ist, sehr traurig und es tut mir auch jetzt weh von hier wegzugehen, aber ich hoffe, ich habe eine kleine Brücke gefunden, die mich mit euch hier verbinden wird. Ich kann nicht alle zu mir nach Wien einladen, dazu habe ich das Geld nicht, aber ich lade zwei von euch - Florin und Georgeta - ein, eine Woche zu mir zu kommen. Ich werde ihnen Wien zeigen, sie werden mir vielleicht ein kleines Stück von ihrer Welt zeigen. (wieder Gemurmle) Ich freue mich sehr darauf. Da die Einladung zu 100% auf meine Kosten geht, hoffe ich, dass Concordia zustimmen wird. Euch, die ich nicht einladen kann, habe ich trotzdem unheimlich gern und wünsche euch das Allerbeste. Zum Schluss noch eine Bitte und ich meine diese Bitte ernst: Nützt die Chance, die euch hier von Concordia geboten wird, es ist eine große Chance für jeden von euch.“ Einige sagen, dass sie das toll finden mit der Einladung. Neid sehe ich in keinem der Gesichter.

Florin voller Eifer. Er hat tatsächlich vor Lucian die sonntägliche Tür einzurennen, sieht sich mit Georgeta morgen schon im Flugzeug sitzen. Warum auch nicht. Logisch gedacht wäre nichts naheliegender: Concordia entstehen keine Kosten, Georgeta hat kommende Woche frei (und es ist nicht absehbar, wann sie die nächste freie Woche haben wird), Florin hat offenbar auch Zeit, eine Woche Wien ist eine Supersache, eine Gelegenheit, die man beim Schopf packen darf, kann, muss. Ein Idiot, wer das nicht tut. Wer weiß, wann die nächste kommt? Und wer, wie diese zwei jungen Leute, im unmittelbaren Nahbereich der „Straße“ lebt (sie schwebt immer im Raum, hier trägt sie den Namen „Gara de Nord“), denkt hundertmal mehr so, muss so denken, will er überleben, kann es sich gar nicht leisten Gelegenheiten nicht zu nützen. Florin denkt so. Handelt so. Ist auch gut so. Ich habe mir das gestern in der Stadt schon gedacht: Bei all seiner Musikbesessenheit – dieser junge Mann hat sein Leben fest im Griff und er gibt das Ruder nicht aus der Hand. So höflich, zuvorkommend, liebenswert er ist, so haargenau weiß er, was er (nicht) will. Jetzt hat er Lucian am Telefon, drückt es mir in die Hand. Lucian sagt mir, was ich erwartet habe: Zu ihm in die Wohnung fahren hat überhaupt keinen Sinn, weil er das nicht entscheiden kann, das muss erst besprochen werden. Dann sagt er, was ich befürchtet habe: Fabian ist zuständig. Florin will natürlich sofort Fabian anrufen. Nein. Stop. Fabian jetzt unter Druck setzen zu wollen, wäre das Kontraproduktivste, was wir tun könnten. Ich werde morgen von Österreich aus ein Mail schreiben, wenn notwendig auch an Ruth Zenkert, Pater Sporschill. Florin ist tief enttäuscht. „Du willst nicht.“ Nein. Ich will nicht unsinnige Dinge tun. Und ich will mich jetzt von den Leuten im Laza verabschieden.

Ich marschiere ins Laza. Florin marschiert mit. Spätestens jetzt weiß ich, wie man sich als Beute fühlt (ist nicht bös gemeint …). Ich warne ihn, sage, dass ich im Laza mit vielen Leuten reden werde, ein paar Stunden dort sein werde, vielleicht auch dort essen werde, und es keine gute Idee ist, wenn er mich begleitet, weil ich Null Zeit für ihn haben werde. Zeit für ihn habe ich nachher, wenn wir gemeinsam zum Flughafen fahren (das haben wir gestern schon ausgemacht und auch mit Emma abgesprochen). Florin marschiert unbeeindruckt weiter, trötet sein Orchester, was das Zeug hält. Dann kann ich dir nicht helfen, kleiner Despot. 

Im Laza ist auch Sonntag. Eine Wochenend-Küchenchefin, die ausgezeichnet Deutsch spricht, zwei rumänische Wochenend-Educatoren (sprechen auch gut Deutsch), alle sehr freundlich. Vor der Tür und im Garten die übliche Menschentraube, eine halbe Stunde Fotoorgie, mir ist zum Heulen, mein Blick fällt auf Florin, er steht am Zaun, schaut mich an, schüttelt den Kopf „nicht weinen“, ich nicke, komme diesem Auftrag mit Müh und Not aber doch nach, gehe noch einmal durchs Haus, melde mich noch einmal zum Küchendienst, darf auch mit dem Küchenteam Fotos machen, schneide mit Moise halb gefrorene Brotberge in Stücke (seinem Bauch geht es schon viel besser), einer der Educatoren lädt mich ein mitzuessen „Dann können Sie sich von allen verabschieden.“, ich nehme die Einladung mit Freude an, nachher verabschiede ich mich, diesmal mit unaufgeschriebenen Worten, die aufgeschriebenen passen hier nicht, hier geht es viel einfacher zu, viel unmittelbarer, von der Hand in den Mund, vom Mund ins Ohr, vom Herz in die Arme, Stehgreif ist hier gefragt, nichts Vorgefasstes, Ausformuliertes, ich stottere wider Erwarten nicht, der Educator übersetzt, dann kommt das, was ich im Laza so mag und was mir im Juda fehlt: dieses ungehinderte Aufeinanderzugehen, Umarmen, von einem zum andern gereicht werden und bei den meisten ist die Umarmung ernst gemeint, die Zuneigung nicht höflich. Kann es sein, dass „Straßenmenschen“ weniger Mauern um sich herum haben? Dann ist es Zeit. Ich muss hier weg. Wo Florin ist? Nicht mehr da.

Im Juda ist es leer. Alle ausgeflogen. In den Parks. Wie komme ich jetzt zu Florin? Gar nicht. Er hat Christi angerufen und lässt mir ausrichten, er kommt am Nachmittag nicht mehr her. Schade. Habe ich ihn zuviel auf die Seite geschoben? Hätte ich das nicht, hätte er alles andere außer sich auf die Seite geschoben. Ich gebe Christi einen Zettel mit meinen Daten, bitte ihn sie an Florin und Georgeta weiterzugeben, finde Michael, den lieben Volontär aus Vorarlberg beim Nudelkochen, er erklärt mir, wie ich zum Flughafen komme, zeichnet es mir sogar auf. Ein letztes Foto. Ich glaube, Michael, du wirst ein hervorragender Behindertenbetreuer.

 

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Viel zu früh am Flughafen. Mein erster Kaffee seit Tagen. Ein Lavazza. Alles Gute für dich, Florin, und hoffentlich bis bald. Ich wollte dir nicht weh tun, dich nicht kränken.

Es tut saumäßig weh hier wegzugehen. Aber ich hätte mich umbringen müssen, hätte ich die Texte in der Kapelle singen, lesen wollen, das Programm herunterspulen, versuchen aus Straßenmenschen Hausmenschen zu machen. Ich weiß nicht, was hier passiert ist. Ich weiß nur, dass es höllisch weh tut. Und dass ich zu diesen Menschen gehöre. Einer von ihnen bin. In Mauern genauso wenig Platz habe wie sie.

Über den Wolken ist es auch um 23 Uhr nicht dunkel. Unter den Wolken ein Gewitter. Von Zeit zu Zeit blinken sie in den unterschiedlichsten Rottönen. Von Zeit zu Zeit Flugzeuge, die wie Kaulquappen in ihnen herumpaddeln. Schwarzbrot mit kaltem Schweinebraten und Kren.

Tag 5 (19. Juni 2010)

In der Früh ein Blick in den Spiegel und mich trifft fast der Schlag. Die Augen sind zwischen aufgeblasenen Daunenkissen verschwunden. Das Gefühl ist okay. Die Optik verheerend. Zum Glück bin ich Brillenträger. Du darfst auf deine alten Tage nicht mehr heulen, Frau, denke ich. Kaltes Wasser. Viel kaltes Wasser. Make-up. Puder. Heute brauche ich eine dicke Schutzschicht.

In der Kapelle (heute später, weil Wochenende) lacht mir Beatbox entgegen, deutet auf den Stuhl neben sich. Fürbitten. Ich verstehe nicht, was er sagt, ich höre nur das Wort „Martha“. Ich bitte heute um nichts. Ich sage Danke. Ein großes Danke ans Leben, dass es immer das für mich bereit hält, was ich gerade brauche, was für mich jetzt und hier wichtig ist, notwendig, auch wenn ich das im Moment oft nicht erkennen kann und mir das, was gerade passiert, manchmal ziemlich weh tut. Ich mache diese Erfahrung seit 54 Jahren und weiß daher, dass es auch jetzt so ist, dass ich mich auf das Leben verlassen kann. Dafür DANKE.

Beim Frühstück zieht mich Beatbox wieder auf den Stuhl neben sich. Ist Kavalier wie immer. Reicht mir das Brot, die Marmelade. Heute gibt es für jeden ein Ei, wir „pecken“. Ich nehme ihm sein zerdonnertes aus der Hand, gebe ihm mein unversehrtes. Wir lachen, plagen uns beim Abschälen. Er fragt, ob er mir heute Bukarest zeigen soll. Ich sage nein, heute geht es nicht, morgen, wenn er Zeit und Lust hat, gerne. Heute steht bei mir „die Farm“ am Programm. Nach dem Frühstück fahren wir. Fabian, eine künftige Volontärin, die gestern aus Deutschland angeflogen ist, und ich, hoffentlich immer noch. Ich bin ziemlich neugierig. Auch wenn ich nicht mitarbeiten werde, ich habe schon so viel von diesem Ort gehört.

Später Vormittag. Wir warten. Die junge Frau aus Deutschland und ich. Sitzen in den blauen Stühlen beim Eingang. Sie schließt im Sommer ihre Ausbildung als Erzieherin ab, spielt Violine, Gitarre, noch ein drittes Instrument, sie wird sicher ein Gewinn für Concordia sein. Gegen halb elf kommt Fabian bei der Tür herein, huscht in sein Büro. Kommt wieder heraus. „Frau Martha, kommen Sie bitte kurz zu mir. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“ Ich fahre also nicht auf die Farm, denke ich, gehe zu ihm ins Büro.

Die Worte weiß ich nicht mehr. Den Inhalt schon. Die Farm wird mir nicht gezeigt, weil das nicht notwendig ist, weil ich mich entschieden habe nicht mitzuarbeiten. Er hat das gestern am Abend noch mit ein paar Leuten besprochen und das Programm für heute umgestellt. Er wird auch mit der jungen Frau aus Deutschland nicht auf die Farm fahren, er wird mit ihr in irgendeine Casa fahren, dort soll sie den Tag verbringen und Eindrücke sammeln. Er schließt seinen Vortrag mit der seltsamen Frage, ob ich damit einverstanden bin. „Nein, ich bin nicht einverstanden!“ Als er mich, aus welchem Grund immer, wie ein Tonband zum dritten Mal fragt, ob ich einverstanden bin, brülle ich ihm das dritte „Nein, ich bin nicht einverstanden!“ ins Gesicht, verlasse das Zimmer und knalle die Tür zu.

Was habe ich erwartet? Concordia ist fertig mit mir. Ich funktioniere nicht. Also: Go!

Morgen (gehe ich). Heute noch nicht. Heute will ich mich noch verabschieden von Bukarest und seinen „Straßenkindern“, mich für ihre Gastfreundschaft bedanken und ihnen von ganzem Herzen alles Gute wünschen. Dieses Mindestmaß an Höflichkeit wird Fabian mir sicher zugestehen und entgegenbringen. Ich gehe noch einmal zu ihm ins Büro und frage ihn, ob er damit einverstanden ist, dass ich die Nacht von heute auf morgen noch hier verbringe, weil ich mich noch von einigen Leuten, auch im Laza, verabschieden will. „Natürlich kannst du bis morgen bleiben.“ Das ist meine letzte Begegnung mit Fabian Robu. Ruth Zenkert habe ich schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Da es seit gestern in der Früh nicht mehr heißt: „Psst! Psst! Ruth schläft!“, nehme ich an, sie ist abgereist.

Aufs Zimmer. Flugticket suchen. Mit zuhause telefonieren. Eine halbe Stunde später ist mein Flug umgebucht, ich fliege morgen um 22:20 Uhr. Das heißt, ich habe noch fast zwei Tage Zeit. Wo ist Beatbox? Vielleicht steht sein Angebot noch mir heute die Stadt zu zeigen. Am Abend muss ich mich dann mit Georgeta zusammensetzen und ihr sagen, dass aus unserem Ausflug am Montag nichts wird. Morgen in der Früh verabschiede ich mich von den jungen Leuten hier, am besten in der Kapelle oder beim Frühstück, da habe ich sie alle beisammen, dann gehe ich ein paar Stunden ins Laza und am Nachmittag hole ich mein Gepäck und: ab Richtung Österreich.

Beatbox muss ich nicht suchen. Wir rennen uns am Gang fast über den Haufen. Natürlich zeigt er mir die Stadt. Er muss nur noch schnell etwas essen. Ob ich mit ihm esse. Ich kann nicht nein und nicht ja sagen, er packt mich ein, wir gehen in die Küche im „Kindergeschoß“. Am Wochenende sind sie Selbstversorger („damit wir selbstständig werden“), klärt er mich auf. Kartoffeln, Eier, Weißbrot. Eine Viertelstunde später sitzen wir bei selbstgebastelten Pommes frites mit zerquirlten Eiern darüber, dazu Weißbrot. Schmeckt köstlich. Dann packt jeder seinen Rucksack und wir starten. „Was willst du sehen?“ „Was du mir zeigen willst.“

Was folgt, ist ein Nachmittag wie ein Segeltörn. Am Ruder Beatbox.

 

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Von hier nach da, nach dort, kreuz und quer mit dem Bus, der U-Bahn, zu Fuß, sogar mit einem Ruderboot sind wir unterwegs. (Da er wieder kein Pflaster am Finger hat, dauert dieser Ausflug allerdings nicht übermäßig lang und wir gehen anschließend eine Apotheke suchen.)

 

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Ich versuche gar nicht mir die Namen der Plätze, Straßen, Parks zu merken, die wir abklappern, sie (die Namen) interessieren mich auch nicht, wir nagen Maiskolben, lutschen Eis, vernichten jede Menge Kirschen, bevor wir die vielen Stufen zum Mausoleum hinaufsteigen, zieht Beatbox plötzlich zwei blitzblaue Flossen aus seinem Rucksack und köpfelt ins Wasser, sogar bei einer Taufe dürfen wir dabei sein.

 

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Und natürlich jede Menge Musik. Beatbox. Ich war noch nie mit einem Orchester unterwegs. Es macht Spaß, auch, die Gesichter der Leute zu beobachten, seines. Und als wir das letzte Stück mit dem Bus fahren, hat er einen Stöpsel im Ohr, ich einen und er klickt mich durch die Musik, die ihm gefällt. Drei Viertel davon gefällt mir auch. Vielen Dank, Florin!

Irgendwann an diesem Nachmittag, wir sitzen bei einer Autobusstation und warten, fragt er mich, ob ich irgendwann wieder nach Bukarest komme. Ich sage, nein. Bei Concordia werde ich nicht mitarbeiten und Urlaub werde ich hier keinen machen, könnte ich mir bei meiner schmalen Brieftasche auch nicht leisten. Er nickt. Drückt mir etwas in die Hand. Ich weiß heute noch nicht, was es ist. Ein Stück Holz an einem Faden. Wir sitzen weiter da, warten auf den Bus. Mir krabbeln die Tränen in die Augen. Um Gottes Willen, nicht heulen! Zum Glück kommt der Bus. Und ein Gedanke: Ich komme nicht nach Bukarest. Was, wenn Florin zu mir kommt? Und Georgeta? Ich könnte den beiden Wien zeigen. Florin könnte in Musik baden. Georgeta in der Stadt. Ich müsste natürlich die ganzen Kosten übernehmen. Eine Woche? Ich habe überhaupt kein Geld, aber …  

Auf dem Weg von der Busstation ins Juda kaufen wir in dem winzigen Laden Pfirsiche und Tomaten, Gurken, Jungzwiebel für eine Riesenschüssel Salat. Und was gibt’s dazu? Dreimal raten. Selbstgebastelte Pommes frites mit zerquirlten Eiern darüber, dazu Weißbrot. Und wir sind nicht die einzigen, die das essen. DAS Essen der jungen Leute am Wochenende (klärt mich Daniela später auf).

Zwischendurch läuft mir die junge Frau aus Deutschland über den Weg. Wo sie heute war, frage ich, und wie es ihr gefallen hat. „Wir waren auf der Farm. Hat mir gut gefallen. Ein kleines Mädchen hat mich gleich an der Hand genommen!“ Lügen tut er also auch. Fabian.

Nach dem Essen bittet Florin Emma (eine liebe, junge Frau, die an diesem Wochenende so etwas wie die Aufsicht hier überhat) die Kapelle noch einmal aufzusperren. Er sitzt und spielt. Werkt am Keyboard. Schaut nicht links und rechts. Ich sitze und höre. Irgendwann kommt ein junges Gesicht herein. Müde. „Wir können nicht schlafen. Es dröhnt so.“ Es wird gegen 23 Uhr sein. Georgeta müsste jetzt auch schon da sein.

Gerade gekommen. Nass bis unter die Haut sitzt sie auf einem der blauen Sessel am Gang neben ihrem Zimmer. Draußen schüttet es. Ich bitte Florin Christi (er studiert Deutsch) zu holen, er macht mir den Dolmetsch. Ich möchte, dass jeder der beiden meine Einladung von A bis Z versteht. Die zwei freuen sich riesig. Ihre Gesichter sind unheimlich schön. Sofort und gleich, spätestens morgen muss das mit Lucian und/oder Fabian ab- und festgemacht sein, Florin wird die Telefonnummern der beiden besorgen und zu Lucian gehen wir morgen in aller Früh nach Hause, „Er wohnt dort und dort … „ , „Aber morgen ist Sonntag, wir können ihm morgen nicht die Tür einrennen“,  und nächste Woche ist überhaupt ganz super, da habe ich frei, jubelt Georgeta … Sie strahlt wie ein Christbaum. Er lacht von einem Ohr zum andern. Ich schaue die beiden an, denke an Fabian. Sie werden nicht kommen dürfen. Nicht einmal, wenn ich zu 100% die Kosten übernehme.

Im Bett schreibe ich noch ein bisschen etwas zusammen für morgen in der Früh. Packe. Habe keine Ahnung, ob ich weinen oder lachen soll.

Tag 4 (18. Juni 2010)

Morgensport heute fein, überraschend kurz. 07:00 Uhr bis 07:15 Uhr auf der Dachterrasse ein paar Runden laufen, dann Dehnungsübungen. Warum so kurz, erfahre ich, als ich nach einer ausgiebigen (weil ja so viel Zeit ist) Dusche um 07:45 Uhr vor der leeren Kapelle stehe. Ulrike, die in der Küche das Frühstück vorbereitet, klärt mich auf. Heute ist Freitag und am Freitag findet die Morgenandacht im Laza statt, am Dienstag ist es umgekehrt, da kommen die Lazaleute zur Andacht ins Juda. Also packe ich meine Sachen für den Tag und marschiere Richtung Laza. Die Kapelle gerammelt voll. Wer sitzt an den Trommeln? Der mächtige dunkle Mann von gestern Abend und trommelt die singenden Heerscharen in Grund und Boden. Super. Der Rhythmus geht in die Knochen. So gefällt es mir hier. Weiter so!

Da wir um 09:30 Uhr von hier aus zum Gara de Nord starten (Streetwork), bleibe ich am besten gleich hier, frühstücke hier mit. Ich bitte daher eine Mitarbeiterin von Fabian (er ist nicht in die Morgenandacht ins Laza gekommen) ihm auszurichten, dass ich hier im Laza bin und mit Joachim auf die Straße gehe und dass das mit Marius, dem Leiter des Laza, abgesprochen ist. „Muss ich mit Fabian telefonieren.“ Sie huscht davon, kommt zurück. „Du sollst bitte ins Juda kommen. Fabian hat ein anderes Programm für dich.“

Zehn Minuten später Fabian zu mir: „Du wirst in den nächsten Tagen hier im Juda mithelfen. Auf die Straße gehen steht nicht am Programm.“

Der Kommunismus muss den Rumänen noch in allen Gliedern sitzen. Ich habe mir das im (zum Glück nur sechs Abende dauernden) Rumänisch-Kurs an der VHS schon gedacht. Die Vortragende war eine Rumänin, Alter zwischen 40 und 50. Nicht links schauen, nicht rechts schauen, um Gottes Willen nur ja keine Zwischenfragen, das Programm herunternuscheln und dann nach Hause gehen. Eine junge Polin, die mit mir die Kursbank gedrückt hat, hat diese Vermutung bestätigt. „Ja, bei uns im alten Ostblock ist das noch so. Ich kenne auch aus Polen nichts anderes. Auswendig lernen, was man vorgesetzt bekommt, nichts sagen, nichts fragen, ob man es versteht oder nicht, ist nicht wichtig, man hat es zu lernen. Punkt.“

Ich bin in einer westlichen Demokratie aufgewachsen, dementsprechend ratlos, ungläubig mein Gesichtsausdruck. Nach einer kleinen Pause fragt er mich, was ich mir von diesem Mitgehen erwarte, ob ich mir die Leute am Gara de Nord wie Tiere im Tiergarten anschauen will. Manche Dinge, die einem widerfahren, sind derart unglaublich, Worte, die einem ins Gesicht geknallt werden, derart unverschämt, dass das Hirn nicht schnell genug ist oder sich weigert sie unmittelbar ins Bewusstsein zu lassen. Soll heißen, ich stehe nicht auf und gehe, ich sage nicht einmal „du Arschloch“, ich denke es mir nicht einmal, ich versuche diesem Programmvollzugsautomaten klarzumachen, dass es für mich ganz wichtig ist zu sehen, wo die Menschen herkommen, mit denen ich im Laza zu tun habe, damit ich verstehe, warum sie sind, wie sie sind und sich verhalten, wie sie sich verhalten und ich so besser auf sie eingehen kann und dass Marius ausdrücklich zugestimmt hat, dass ich Joachim heute begleite. Daraufhin meint er, dass Marius dem nie zustimmen hätte dürfen, weil es am Gara de Nord viel zu gefährlich sei für mich, weil Joachim zu wenig Erfahrung habe und mich nicht schützen könne, er könne nur laufen, wenn es gefährlich wird, mich schützen könne nur der und der (Name vergessen, offenbar der Oberstreetworker hier), weil die Leute in den Kanälen ihn schon jahrelang kennen und er weiß, wie man mit ihnen umgeht und dieser der und der sei heute nicht da, und dass man ohne seine Begleitung in den Kanälen ausgeraubt würde, dass Eintritt von einem verlangt würde, dass Concordia die Verantwortung für mich trage …  außerdem könne ich ohne Rumänischkenntnisse ohnehin nichts ausrichten, ich könne nicht einmal mit den Leuten reden.

Ich frage, ob er realisiert hat, dass ich über fünfzig, also schon seit ein paar Jahren volljährig bin, zu 100% freiwillig hier bin und die volle Verantwortung für das trage, was ich hier tue. Ich bin jetzt ziemlich zornig. Der Mann hält mich offenbar für grenzdebil. Ich habe nicht erwartet, dass wir heute in die Kanäle steigen und Joachim hat mir das auch bestätigt, dass er das nicht tut, weil er dafür viel zu wenig Erfahrung hat, er teilt nur Tee aus, wenn er allein unterwegs ist, und redet ein bisschen mit den Leuten und das alles macht er zu ebener Erde und im hellen Tageslicht. Ich weiß nicht, ob Fabian das nicht weiß. Ich weiß auch nicht, ob er nicht weiß, dass viele ein bisschen Deutsch oder Englisch sprechen und dass es in dieser Woche, die ich jetzt da bin, nicht darum geht, dass/ob ich etwas „ausrichte“.

Ich brauche nicht unbedingt Rumänischkenntnisse um mit den „Straßenkindern“ in Kontakt zu treten, das ist die überaus positive Überraschung dieser wenigen Tage in Bukarest, aber 100 Jahre Rumänischkenntnisse würden nicht ausreichen um zwischen Concordia und mir eine Verbindung herzustellen, das ist das traurige Ergebnis. 

Fabian spult ungerührt seinen Text herunter, ein Tonband würde das gleiche tun: „Ich empfehle dir nicht mit Joachim mitzugehen. Wenn du im September kommst, steht nach ein paar Wochen Rumänisch lernen ohnehin ein Tag Straße am Programm. Außerdem wirst du heute hier im Juda in der Küche dringend gebraucht, ich habe schon gesagt, dass du kommst.“

Natürlich werde ich in der Küche nicht dringend gebraucht. Aber Programm ist Programm, das weiß auch Violetta (die Köchin) und wenn sie mir die Zwiebeln zum schneiden geben muss, weil ich frage, was ich tun soll, steht der Junge, der für diese Hilfsdienste abgestellt ist, arbeitslos daneben. Zorn, Enttäuschung, Wut. Sie geben sich wirklich alle Mühe. Aber ich muss noch weiter hinunter, weil ich es immer noch nicht anfassen kann, will, ich weigere mich es zu begreifen, wie die dreckige Hand des Mannes gestern, es kann nicht sein, was hier passiert, dass Menschen im Namen der Nächstenliebe auf ein Stück Material reduziert werden, als willenlose Arbeitskraft zu funktionieren, parieren oder zu verschwinden haben. Als das blonde Bummelchen gar nichts mehr mit mir anzufangen weiß, meint sie, ich soll den winzigen Küchenraum putzen, während der Junge und sie kochen.

Concordia hat mich überstanden. Fabian muss sich im Herbst nicht mit mir plagen. Am Abend machen wir es zu dritt fix. Fabian: „Ich will nur sichergehen, dass ich dich richtig verstanden habe.“ So kann man es auch machen. Man behandelt Menschen wie unmündige Kinder, bis sie es entweder geworden oder gegangen sind. Auf diese Weise muss man sie nicht vor die Tür setzen, ganz im Gegenteil, man kann ihnen immer und ewig freundlich die Hand entgegenstrecken, dass sie keinen Platz für ihren Fuß finden, ist ihre Sache.

Als der Zorn nachlässt, fängt es an wehzutun, jede Stunde ein bisschen mehr, wie wenn die Wirkung einer Schmerztablette langsam zurückgeht. Ich würde sehr gern, wirklich sehr, sehr gern mit den „Straßenkindern“ hier leben und arbeiten. Ich würde sie nicht zum Arbeiten bringen wollen, ich würde mit ihnen zusammen arbeiten wollen, ich würde sie nicht erziehen wollen, insofern hat Fabian völlig recht, wenn er mich mit seinem stumpfsinnigen Programmvollziehungsgehabe hinausekelt, ich wäre für Concordia wahrscheinlich nutzlos, möglicherweise kontraproduktiv (gemessen an dem, was diese Institution als Produkt anstrebt). Ich würde kein Produkt, kein Bataillon anstreben, ich würde die Menschen nehmen, annehmen, wie sie sind und versuchen, dass ich sie und sie mich verstehen. Ich würde den Herrgott nicht in den Himmel verbannen. Sprich: 100% untragbar.

Mein Vorsatz: die wenigen Tage, die mir hier bleiben, so bewusst wie möglich leben.

Nachmittag Garten. Unkrautjäten mit Beatbox. Das steht auf seinem Programm. Ein Kübel für das Unkraut, zwei Krallen. Die Blase auf seinem rechten Zeigefinger steht nicht am Programm, sie reicht trotzdem von der Fingerspitze über die gesamte Innenseite des Fingers bis über das zweite Gelenk zurück, sie ist offen, eine hauchdünne Hautschicht wie eine Klarsichtfolie über dem dunkelroten Gewebe. Das heißt, zuallererst muss ich einen Handschuh organisieren, Stefanie suchen, eine dicke Schicht Betaisadonna-Gel und ein riesiges Pflaster. Jetzt ist der Finger stocksteif. Jetzt gehen wir jäten. Ein bisschen. Wenig. Putin (mit s unter dem t). DAS Wort zwischen uns. Ich kann so gut wie nicht Rumänisch, er spricht kein Wort Deutsch, Englisch ganz wenig. Putin! Putin!

Über seine Vergangenheit weiß ich nichts. Nur dass er sechs Jahre in die Schule gegangen ist. Er kann oder will nicht schreiben (er sagt, seine Handschrift sei so hässlich) und weigert sich einer geregelten Arbeit nachzugehen (hat man mir erzählt). Er verdiene sein Geld mit Handygeschäften. „Er stielt nicht, aber er gewinnt immer.” Was immer das heißt.  Sein Name ist Florin. Müsste ich ihn mit einem Wort beschreiben, wäre es MUSIK. Keyboard. Trommeln. Aber in erster Linie und 80% vom Tag ist er Beatbox. Er braucht kein Instrument, er ist sein eigenes. Nicht nur eines. Florin ist ein Orchester. Ich habe so etwas noch nie gesehen, gehört, finde es faszinierend, was Menschen aus sich herausholen können, ohne irgendein Hilfsmittel. Die Musik kommt ihm im wahrsten Sinn des Wortes aus fast jeder Körperöffnung. „Er ist verrückt“, habe ich nicht nur einmal gehört. Vielleicht mag ich ihn deshalb so gern. Hier ist er:

 

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Am späten Nachmittag ist Gartenspritzen an der Reihe. Und Georgeta. Ein Roma-Mädchen. 22 Jahre alt. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, war ich mir einen Moment nicht sicher, ist sie ein Bursche oder ein Mädchen. Sie spricht sehr gut Deutsch, auch Englisch. Aber wenn sie etwas nicht hören oder über etwas nicht reden will, versteht sie von einer Sekunde auf die andere kein Wort mehr. Sprich: Sie ist eigenwillig, schwierig, hat eine angenehm tiefe Stimme. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, ich werde sie hier nicht ausbreiten. Zur Zeit arbeitet sie beim Billa, muss um halb fünf aufstehen, das ist das Allerschwierigste, sagt sie, morgen und übermorgen (Samstag und Sonntag) arbeitet sie durch, jeden Tag bis 10 Uhr am Abend. Dafür hat sie die ganze nächste Woche frei. Wir machen uns aus: Am Montag gehen wir gleich nach dem Frühstück gemeinsam in die Stadt. Den Garten spritzt sie so, wie sie ist: recht eigenwillig, sie bleibt oft stehen, schaut in den Sprühregen, ersäuft die eine Staude, vergisst dafür die nächste und die übernächste, gießt Zaunpfosten, richtet den Wasserstrahl in den Himmel, lacht. Sie hat ungemein viel Traurigkeit in sich, glaube ich. Hier ist sie:

 

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Am Abend sitzen wir zu dritt in der Kapelle. Beatbox zeigt mir seine Musik, was er mit dem Keyboard alles machen kann.

Im Bett kommen dann endlich die Tränen. Bäche.

Tag 3 (17. Juni 2010)

06:45 Uhr. Wie gestern. Noch niemand da. Nur der winzige schwarze Hund kommt angerannt, als ich vors Haus trete. Er ist ganz jung, zugelaufen, wird hier gefüttert, irgendwann wird man ihn auch impfen lassen, ins Haus darf er nicht. Er ist ganz lieb, aber er hat fürchterlich scharfe Zähne. Und zack: Blut rinnt. Gleich zweimal. Hier ist das Ungetüm.

 

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Um 7 Uhr tröpfeln ein paar müde Gesichter aus der Tür. Morgensport ist bei den jungen Leuten hier nicht unbedingt der Renner. Heute steht Aerobic am Programm. Lauter Übungen mit Kopf nach unten. Die lasse ich lieber sein. Mein Kopf ist noch immer nicht ganz in Ordnung. Ich gehe mich duschen und Stefanie verarztet mich liebevoll mit Betaisadonna und zwei Pflastern.

07:45 Uhr. Kapelle. Pater Sporschill ist offenbar schon wieder weg. Ich sehe ihn zumindest bis zu meiner Abreise nicht mehr. Im Evangelium geht es heute darum, dass man seine Frömmigkeit nicht zur Schau stellen soll, man soll vielmehr still in seinem Kämmerlein beten. Wenn Jesus das so sagt, warum müssen wir hier sitzen? (Wegen der Gemeinschaft, ich weiß schon …) Es heißt in diesem Evangelium auch, man soll das Gute, das man tut, nicht ausposaunen, zur Schau stellen, man soll es unbemerkt tun. Das heißt, wir sollten jetzt hinausgehen und das protzige Plakat des Stiftes Klosterneuburg von der Wand nehmen. Wieso passiert das alles nicht? Kann es sein, dass man Worte nicht mehr hört, wenn man sie zu oft hört? So wie man den Lärm der Straßenbahn vor dem Fenster irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Kirche genau das geworden ist, wogegen Jesus vor gut 2000 Jahren angetreten ist. Fürbitten. Den netten Zivi aus Sofia stört offenbar das gleiche wie mich. Er wünscht sich Glaubensfreiheit. Ich wünsche mir das auch und dass niemandem ein Nachteil daraus entsteht, ob und wie er (s)einen Glauben ausübt.

08:30 Uhr. Frühstück. Heute gibt es zusätzlich Tomaten. Das ist super bei der Hitze. Ruth Zenkert fragt mich, ob sich meine Bitte in der Kapelle auf Concordia bezogen hat. Meine Bitte schließt alle ein, warum nicht auch Concordia? Ich frage sie, ob es in den Suppenküchen von Moldawien auch zweimal am Tag eine Andacht gibt. Nein. Weil die Leute nicht dort bleiben. Sie kommen nur zum Essen oder das Essen wird ihnen gebracht. Vielleicht sollte ich nach Moldawien gehen. In eine Suppenküche.

Mein Programm für heute ist unschwer zu erraten: Küchendienst im Laza. Es wird Zeit, dass ich die Sache selber in die Hand nehme. Ich will das Straßenkinderprojekt von Concordia in Rumänien kennenlernen. Deshalb bin ich von Österreich hierhergekommen.

Im Laza gehe ich sofort zu Marius (Leiter) und frage, ob ich beim Streetworking mitgehen darf. Ich möchte mir die Arbeit auf der Straße anschauen und ich möchte sehen, woher die Menschen kommen, die hier im Laza sind, damit ich sie besser verstehe und besser auf sie eingehen kann. Marius reagiert genauso, wie ich es von ihm erwartet habe. Er schaut mich an, ernsthaft, dann lacht er sein ungeheuer herzliches Lächeln, nickt. „Warum nicht. Wenn du das willst. Morgen geht Joachim am Vormittag auf die Straße. Rede mit ihm.“ Ich rede mit ihm. Wir werden zu dritt sein. Joachim, eine Frau von der Straße, die im Laza wohnt, und ich. Start 9:30 Uhr. Ziel: Gara de Nord. „Wir schenken dort Tee aus und reden mit den Leuten.“ Gut. Ich marschiere in die Küche, melde mich zum Dienst, zeige Didi meine Hundebisse, bitte um einen Handschuh. „Wenn du heute mit Handschuhen arbeitest - kannst du das Abwaschen der Wände mit Chlor übernehmen?“ „Selbstverständlich.“

Heute gehöre ich schon zur Küchenmannschaft dazu. Auch die kleine, stille Frau lächelt mich freundlich an und irgendwie schaffen wir es ein bisschen miteinander zu reden, putin (mit einem s unter dem t), ein bisschen, ein wenig. Ich glaube, sie will mir sagen, dass sie ein oder zwei Kinder hat, die aber nicht hier bei ihr sind, die entweder in einem staatlichen oder in einem Concordia-Heim sind, aber ich bin mir nicht sicher. Sie putzt, wie schon gestern, die Türen, dann die Fenster. Ich putze die Wände. Erstaunlich. Sie werden wirklich wieder weiß. Ich habe noch nie mit Chlor gearbeitet. Nach einer halben Stunde habe ich meine Hose ruiniert. Macht nichts. Das gehört auch dazu. Ich wische und wasche weiter, es ist wie eine Meditation. Zwischendurch bringt mir ein freundlicher Mann einen Apfel, später bekomme ich eine Limonade, als ich fertig bin, nimmt mir Didi die Handschuhe ab, sitzt lang mit mir auf der Bank vor der Küche im Schatten. Pfefferminztee mit Eiswürfel. Nett ist es. Jeder einzelne aus der Küchenmannschaft ist nett. Freundlich. Liebenswert. Ich bin gut eingepackt in der Gemeinschaft hier. 

Vor dem Mittagessen husche ich noch schnell ins Laza-Art um mir die Stühle anzuschauen, die Michael seit ein paar Tagen mit den Leuten bastelt. Sie bestehen aus lauter Papierlagen, die übereinander geklebt werden, irgendwann in den nächsten Wochen soll man darauf sitzen können. An den Wänden viele Zeichnungen. Fast alle wie Kinderzeichnungen. Im ersten Moment bin ich erstaunt, aber dann denke ich: Ich würde auch nichts anderes zustande bringen. Eine der jungen Frauen knüpft mit einem Irrsinnstempo aus verschiedenfärbigen Wollfäden ein Armband für Johannes, den Zivildiener aus Bulgarien. Eine andere Frau strickt einen leuchtendblauen Pullover für ihre kleine Stoffpuppe. Sie strickt den ganzen Tag, dann ist sie fertig. Zeigt stolz ihr Baby.  

Mittagessen. Wieder eine supergute Suppe. Dann wird Salz und Pfeffer abgeräumt. Warum? „Weil es jetzt süß weitergeht.“ Makkaroni cu branza, ein Nudelauflauf mit Käse, Zucker, Zimt. Hervorragend.

Nach dem Essen sitze ich lange bei einem jungen Mann im Garten. Er ist mit Rucksack und Wolldecke hier. Den ganzen Vormittag sitzt er schon hier auf der Bank. Er wartet, hofft, dass man ihn wieder aufnimmt. Er hat Hausverbot, weil er aggressiv geworden ist, er wollte nicht am Programm teilnehmen oder hat nicht am Programm teilgenommen, auf jeden Fall ist es vor oder im Speisesaal zu einer Auseinandersetzung mit einem Volontär gekommen, der ihn nicht hineinlassen wollte, er ist ausgerastet, hat einen Teller gepackt und ihm an den Kopf geworfen. Vielleicht hat er auch ein viel größeres Verbrechen begangen. Das ist das, was er mir erzählt hat. Ob er eine Matte hat zum darauf Schlafen, frage ich. Er deutet auf einen zerfledderten Pappendeckel, der neben der Bank lehnt. Heute hat er hier im Garten geschlafen, im hinteren Teil. Er will nicht mehr auf die Straße zu den andern am Gara de Nord. „Dort trinke ich viel zu viel. Und dann tue ich Dinge, die ich nicht tun will.“ Ergeben sitzt er da. Schlank, groß, ernst. Er hat fest vor hier auszuharren, bis man ihm die Tür wieder öffnet, sprich: ihn wieder aufnimmt. Er ist keine Spur zornig. Schimpft über niemand, macht niemandem einen Vorwurf. Er hat hier zu warten. Das weiß er und das tut er. Wenn es sein muss, Tage, Wochen. Eine Frau, die auch hier wohnt, kommt und drückt ihm etwas in die Hand. Eine Serviette mit einem Stück Makkaroniauflauf. Er nickt danke, isst ganz langsam. Er ist ein bisschen krank, sagt er.

Am Nachmittag möchte ich Michael beim Handtücherausteilen helfen. Heute können die Leute von der Straße zum Duschen und Kleiderausfassen kommen. Nach einer halben Stunde mehr oder weniger beschäftigungslosem Herumsitzen (weil in dieser Zeit so gut wie niemand zum Duschen kommt) gehe ich in den Garten und mache beim Kanaldeckel-Bemalen mit. Hier der Kanaldeckel, an dem wir zu viert gewerkt haben.

 

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Und hier zwei der Künstlerinnen: die blonde Daniela, eine liebe junge Frau aus Deutschland, die diese Kanaldeckel-Bemalungsaktion überhat (sie macht ein dreimonatiges Praktikum hier) und eine junge Frau, die im Laza wohnt (den Namen habe ich vergessen, es ist eine Schande, ich weiß) und mitmalt.

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Am späten Nachmittag ergattere ich einen Platz am Laptop und schreibe ein langes Mail nach Österreich, lauter wirres Zeug, das meinem verwirrten Innenleben entspricht. Gestern war ich drauf und dran zu gehen, heute bin ich drauf und dran zu bleiben, ich weiß nur nicht, wie … und vor lauter Mail schreiben versäume ich die halbe Andacht. Bekomme trotzdem anstandslos ein gutes Abendessen. Dann das Programm für heute Abend: etwas Discoähnliches im Juda.

Die erste Gruppe marschiert bald nach dem Essen Richtung Juda, ich bleibe noch eine Weile im Laza im Garten, es ist so schön jetzt im Freien. Ein paar Gesichter, die ich noch nicht kenne, ein mächtiger, dunkler Mann kommt auf mich zu, ich weiß nicht, ob er so braun oder so dreckig ist, er streckt mir die Hand entgegen, etwas in mir sträubt sich entsetzlich, ich gebe ihm meine und bleibe fast picken. Er kommt jetzt auch ins Laza, sagt jemand. Ich gehe mir die Hände waschen.

Nach einer Weile kommt die Disco-Gruppe wieder zurück, viel größer jetzt, weil viele Juda-Leute dabei sind, weil das Programm umgestellt wurde, die Veranstaltung findet jetzt hier im Laza im Turnsaal statt. Eine Stunde später steht fest, sie findet weder im Juda noch im Laza statt, etwas ist kaputt. Ich beschließe Richtung Heimat bzw. Bett (also Juda) aufzubrechen. “Nein, du darfst nicht allein gehen, das ist jetzt zu gefährlich!” Eine junge Frau, die im Juda wohnt, ich glaube, sie heißt auch Daniela, hält mich an der Gartentür auf. “Warte!” Zwei Minuten später habe ich einen Bodyguard. Beatbox. 24 Jahre alt, trommelt, spielt Keyboard, ist durch und durch musikbesessen, wohnt im Juda, trägt mit Vorliebe hellgrün gestreifte Brillen, die ihm jemand aus Deutschland mitgebracht hat („5 Euro!“), ist ein ausgezeichneter Inlineskater, hat eine riesige Blase am rechten Zeigefinger und wird mir in den nächsten Tagen noch fürchterlich ans Herz wachsen.  

Die Gassen sind am Abend belebter als untertags, hier und da am Randstein ein Feuer. Zigeuner, sagt Beatbox. Er wedelt mit/auf seinen Inlineskaters vor mir her (superenge Schwünge, würde er Schifahren lernen wollen, würde er dazu nicht länger als eine Woche brauchen), bleibt stehen, dreht um, kommt zurück, trappelt/trippelt langsam neben mir her auf seinen Sportgeräten. Es gefällt mir hier. Ich würde sehr gern im September wiederkommen. Ich mag die Menschen hier, das Land, Bukarest. Sogar die streunenden Hunde. Michael hat erzählt, es sei ein bisschen unheimlich, wenn man in dieser Gegend in der Nacht allein unterwegs ist, weil einem immer ein Rudel Hunde folgt, das langsam immer näher kommt. Er bleibt dann immer wieder stehen, dreht sich um, dann weichen die Tiere zurück, dann geht er wieder ein Stück, dann dreht er sich wieder um … Beatbox hat seine eigene Art die Hunde auf Diszanz zu halten. Er gibt eine Tonfolge von sich, die mich an das Jaulen eines Hundes erinnert, dem gerade jemand auf den Schwanz tritt. Die Hunde offenbar auch. Auf der befahrenen Hautptstraße ohne Gehsteig schupft er mich von der Fahrbahn weg, geht - Kavalier, der er ist - auf der den Autos zugewandten Seite, im Juda angekommen, öffnet er mir die Tür, lässt mich vorgehen. Ich denke an die jungen Leute in Wien.

Tag 2 (16. Juni 2010)

06:45 Uhr. Morgensport. Joggen. Die jungen Leute sind in der Früh schwer aus dem Bett zu bringen. Es wird 7 Uhr, bis wir loslaufen. Eine Hand voll „Kinder“ und drei Erwachsene. Wir laufen Richtung Laza, treffen unterwegs Stefanie (sie wohnt im Laza, weil sie mit Marius verheiratet ist und ist jetzt unterwegs ins Juda), dann laufen wir wieder zurück. Alles in allem eine halbe Stunde. Tut gut. Macht Spaß. Dann schnell unter die Dusche.

07:45 Uhr. Kapelle. Keine Messe. Es wird viel gesungen, begleitet von Gitarre, Trommeln, Keyboard, ein Evangelium wird gelesen (das Evangelium wird im Juda auch in Deutsch gelesen), dann folgen ein paar Worte zu seinem Text durch den, der die Andacht leitet (in diesen Tagen im Juda meistens Stefanie), Gebete werden gelesen, jeder formuliert eine Fürbitte, Gäste wie ich dürfen das auch in Deutsch. Mitten in den Fürbitten fangen alle zum Lachen an. Ein Bursche wünscht Ruth Zenkert und Pater Sporschill, dass sie endlich auch eigene Kinder bekommen. Wofür soll ich bitten und wen? Ich bitte niemand, ich wünsche den jungen Leuten von ganzem Herzen, dass jeder von ihnen den Weg in ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben findet.

08:30 Uhr Frühstück. Angenehm spartanisch. Schwarzbrot, Margarine, Marmelade, etwas Müsliähnliches, Milch, Tee. Kaffee (leider) nicht. „Wir essen, was die Kinder essen.“ Ruth Zenkert. „Es geht hier ausschließlich um die Erziehung der Kinder, sonst um nichts.“ Wie mein erster Tag war. Ich spontan: „Fremd.“ Soll heißen: jede Minute neu, ungewohnt. Ob ich Fragen habe. Ja. Eine. Stimmt es, dass die Andacht in der Kapelle für „die Kinder“ Pflicht ist und dass sie, wenn sie nicht daran teilnehmen, auch nicht am gemeinsamen Essen teilnehmen dürfen? Ein entsetzter Blick. Natürlich nicht. Es sei ganz wichtig, dass alles, was mit dem Glauben zu tun hat, freiwillig passiert. Die Idee mit der Kapelle sei sogar von den Kinder gekommen. Es sei ihnen ein Bedürfnis sich bei Gott zu bedanken. Aber sie werde nachfragen, ob während ihrer Abwesenheit hier etwas eingeführt wurde, von dem sie nichts weiß.

Nach dem Frühstück verkündet Stefanie das Programm für den Tag, nach dem Gebet sagt Fabian mir meines: Mitarbeit im Laza. Küchendienst. Und: Heute kommt Pater Sporschill. Er liest um 18 Uhr hier im Juda eine Messe, zu der auch die Laza-Leute kommen und Kinder und Erzieher aus anderen Concordia-Häusern, anschließend gibt es ein gemeinsames Essen hier im Garten, das vom Laza geliefert, sprich: dort gekocht wird. Wird ein heißer Tag heute … Der nette, dicke Vorarlberger und ich stapfen gemeinsam ins Laza. Er heißt Michael, will Behindertenbetreuer werden.

Der Küchenchef im Laza heißt Didi (schreibt man sicher nicht so), ist energisch, sehr nett. Er arbeitet seit drei Jahren hier. Hat seine Mannschaft (bestehend aus Bewohnern des Hauses) und Küche fest im Griff. “Wer sich bewährt und schnell ist, darf bleiben.” Ein paar Leute kochen, ein paar Leute putzen, den ganzen Vormittag. Hier bleibt kein Dreck liegen, hier ist nichts unhygienisch. Sogar die Türen, Wände werden jeden Tag abgewaschen. Als erstes putze ich mit einer kleinen, stillen, sehr freundlichen Frau Gemüse, vor allem Jungzwiebel, Gurken. Geschnitten wird es anschließend von zwei Männern, die hier offenbar seit Jahren Gemüse schneiden, sprich: sagenhaft schnell sind. Die Gemüse- und Kartoffelberge sind fast so eindrucksvoll wie die Kochtöpfe, Kinderbadewannen, die um 09:30 Uhr schon voll gefüllt sind und in denen es kocht, köchelt, sprudelt. Wer hier umrühren will, muss kräftig sein. Didi ist kräftig. Alle Fenster und Türen sind offen. Es ist angenehm. Keine Spur so heiß, wie ich es erwartet habe. Nach dem Gemüseputzen schickt Didi mich mit der kleinen, stillen Frau Türen putzen. Bin ich dafür von Österreich nach Rumänien geflogen? Wir teilen uns einen Topf mit Wasser und eine Cif-Flasche. Nach dem Türenputzen bekomme ich zwei gekochte Hühner zugeteilt, ich soll die Knochen herausnehmen. Nur die Knochen und Knorpel, erklärt er mir, als ich auch die Haut auf die Seite lege, alles andere wird verwertet. „Wir müssen hier aus wenig viel machen.“ Das sehe ich ein, das gefällt mir. Also nur die Knochen und Knorpel heraus. Als Nächstes helfe ich Stefan, einem netten, freundlichen Typ beim Tischdecken. Er darf demnächst wieder auf “die Farm” übersiedeln, erzählt er mir später (ich weiß von dieser Farm nur soviel, dass sie eine Autostunde von Bukarest entfernt liegt, dass es dort Wohnhäuser, eine Landwirtschaft, eine Bäckerei, Werkstätten gibt), er sei schon auf der Farm gewesen und hätte dort auch schon eine Berufsausbildung gemacht, aber dann hätte er bei einem Besuch mit Ruth Zenkert in Wien einen großen Fehler gemacht und deshalb sei er jetzt wieder hier. Er freut sich schon sehr von hier fortzukommen. „Ich will die Straße nicht mehr. Diesmal muss es klappen.“ Auch Constantin und John gestern haben von dieser Farm erzählt und dass sie nächste Woche dorthin kommen und wer dort in welchem Bereich arbeiten wird. Muss eine tolle Sache sein. Ich bin schon sehr neugierig, werde sie ja am Wochenende sehen, vielleicht auch „die Stadt der Kinder“ (sie ist in Ploiesti, wie weit das von Bukarest entfernt ist, weiß ich nicht, auch nicht, ob die Kinder dort nur wohnen oder ob es dort auch Ausbildungsmöglichkeiten gibt). 

Mittagessen. Kartoffelauflauf mit Wurst, vorher Suppe, Suppe ausgezeichnet, Auflauf viel zu viel. Ich schiebe den halbvollen Teller weg. Ein Educator, der am Nebentisch sitzt (ein Rumäne, der gut Deutsch spricht), spricht mich an, deutet auf meinen Teller, schüttelt den Kopf. „Bitte aufessen. Alle hier müssen aufessen, was sie am Teller haben, Sie bitte auch. Wir erklären diese Vorschrift den Leuten so, dass es hier so viele Menschen gibt, die nichts zu essen haben, also müssen wir hier mit dem Essen sorgfältig umgehen. Wer weniger essen will, nimmt sich eine kleinere Portion.“ Eine Schrecksekunde, zwei Sekunden Zorn („Was bildet sich der eigentlich ein?“), dann nicke ich, nehme die Gabel. Er hat Recht. Man hätte mir das zwar vorher sagen können, dann hätte ich auf einer kleineren Portion bestanden, aber bitte. Es ist mühsam gegen die Hitze anzuessen und mein Magen verzeiht es mir den ganzen Tag nicht. Nach dem Essen Tische abräumen. Küchendienst für heute beendet.

Nächster Programmpunkt Gartenarbeit. Bei der Affenhitze. Ich bin ziemlich grantig. Da man uns kein Werkzeug zur Verfügung stellt und ich meine Aufgabe hier nicht darin sehe, verwilderte Blumenbeete mit den Händen umzugraben, sehe ich diesen Programmpunkt nach einer Viertelstunde für mich als erledigt an. Setze mich zu den Leuten. Die Frage, die mir am öftesten gestellt wird: „Wie alt bist du?“ Die Volontäre, die hier mitarbeiten, sind durch die Bank ganz jung. Die meisten haben die Matura hinter sich oder die Schule und legen ein soziales Jahr ein, bevor sie auf die Uni gehen oder zu arbeiten anfangen. In meinem Alter haben die Leute etwas anderes zu tun, als nach Rumänien zu fahren und unentgeltlich in einem Straßenkinderprojekt mitzuarbeiten. Es dauert nicht lange und ich schaffe die Antwort auf die Frage auf Rumänisch: cinzeci si patru (54). Dann meistens ein Daumen, der nach oben geht und ein anerkennendes Nicken. Ich höre ihnen zu, schaue sie an, versuche ein bisschen etwas zu verstehen. Sie geben sich alle Mühe sich mir verständlich zu machen. Jeder von ihnen ist ein Unikat. Zwei junge, ziemlich hübsche, eigenwillige Frauen frage ich, ob sie nicht lieber im Juda wohnen und leben würden als hier. Um Himmels Willen nein. Da verbringen sie lieber den Tag auf der Straße. Ich muss lachen. Ich verstehe sie. Im Juda ist es so still, leer. Dort herrscht der Gehorsam, die Pflicht. Die jungen Leute dort werden gefördert, an der Hand genommen, keine Frage, aber sie müssen parieren. Oder zurück auf die Straße. Hier im Laza gibt es auch Regeln, aber es ist auch noch Platz für Eigensinn, Individualität, Widerstand. Armut auch. Das ist der Preis. Wie soll ich diese Unikate ab Herbst maßregeln? Ich will ihnen zuhören, sie verstehen, ich will keine Punkte verteilen oder streichen. Ich verstehe, dass sie nicht in die Kapelle wollen, ich will auch nicht in die Kapelle. Ich will sie nicht zum Funktionieren bringen, ich funktioniere selbst nicht, habe es selbst mein Leben lang versucht, aber es funktioniert nicht, dass ich funktioniere, ich kann mich nicht aufgeben, keine andere sein, als die, die ich bin. Wie kann ich es von anderen verlangen? Diese Menschen sind mir viel näher als ihre Erzieher. Ich will aus ihnen nichts machen, was sie nicht jetzt schon sind. Ich mag sie, wie sie sind. Ich fürchte, für jemand wie mich ist im Concordia-Programm kein Punkt vorgesehen. 

Im Aufenthaltsraum der Volontäre wird diskutiert. Auch über Pater Sporschill. Er sei keiner, mit dem man diskutieren könne, erzählt einer von ihnen. Man könne mit ihm reden, aber nicht diskutieren. Er lässt keine andere Meinung gelten als seine, ihn habe er einmal angebrüllt, dass ihn nicht interessiere, was er zu sagen hätte. Vielleicht wird man nach zwanzig Jahren Straßenarbeit so. Ein Zivildiener, der seit 9 Monaten bei Concordia in Bulgarien mitarbeitet und jetzt ein paar Tage hier ist um sich die Concordia-Einrichtungen in Rumänien anzuschauen, erzählt, dass es in Sophia anders sei, freier, dass es auch keine Rolle spiele, ob er an der Andacht teilnehme und wenn er teilnimmt, ob er mitsingt und -betet oder nicht. “Ich habe noch nie so einen weltlichen Priester gesehen wie unseren in Sophia.” Ich habe Kopfweh. Die Hitze. Eine Tablette. Schlecht ist mir auch von dem Berg Kartoffelauflauf. Um 17 Uhr marschiere ich Richtung Juda. Um 18 Uhr große Messe. Vorher eine zweite Tablette.

So groß ist die Messe nicht. Die Kapelle ist voll. Das ist alles. Heute gibt es wirklich viele Kinder hier. Er predigt nicht einmal, sagt nichts zum Evangelium, das überlässt er Fabian. Aber Moise hat er mitgebracht. Der kleine Mann steht die ganze Zeit neben ihm. Stolz. Ist sein besonderer Schützling. Beim Hinausgehen gibt er mir (als dem wahrscheinlich einzig fremden, noch dazu ungewohnt alten Gesicht in der Menge und unmittelbar neben der Tür) die Hand. Mir ist immer noch schlecht und der Kopf ist nach der zweiten Tablette ziemlich dumpf.

Beim Abendessen im Garten sitze ich an einem 100% rumänisch-sprachigen Tisch, drei oder vier Kinder, zwei Erzieherinnen, die Kinder blitzblank und brav (ein kleiner Bub plagt sich schrecklich seinen Teller leer zu kriegen), die große Gesellschaft löst sich bald auf, die Kinder müssen ins Bett. Ich bin drauf und dran morgen meine Reisetasche zu packen und mir ein Zimmer in Bukarest zu suchen. Ich sehe hier keinen Platz für mich. Und die Heiligenscheine gehen mir unendlich auf die Nerven. Wenn ich daran denke, dass ich morgen in der Früh wieder in der Andacht sitzen soll …

Am Weg ins Bett fängt mich eine junge Frau ab, sie wohnt hier im Haus, wir sitzen lange zusammen, zuerst am Gang, dann bei ihr im Zimmer, ich höre ihr einfach nur zu, es ist, als würde ich mit mir selbst reden, wir haben die gleichen Ansichten, ich kann ihr nur zustimmen, auch ich wäre nicht zufrieden hier, viele sind nicht zufrieden hier, erzählt sie, leiden unter der Zwangsbeglückung, aber sie haben keine Alternative. Sie sagt, wenn sie ihren Job verliert, muss sie nicht nur dieses Haus verlassen, sie darf dann auch nicht mehr ins Laza. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ich hoffe, sie hat gelogen. (Die Leute lügen viel hier, höre ich hier immer wieder.) Aber selbst, wenn sie nicht gelogen hat, ist das hier ihre einzige Chance, wenn sie von der Straße weg will, und es ist nicht nur ihre einzige, es ist eine riesige Chance, das wird mir bei diesem Gespräch klar und das sage ich ihr auch. Die jungen Menschen leiden zwar unter dieser strengen Ordnung, aber wenn sie die Zähne zusammenbeißen, können sie hier jede Hilfe bekommen, die sie brauchen um irgendwann auf eigenen Füßen zu stehen und dann ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihm die Ordnung zu geben, die sie wollen und für gut halten. Denn bei allen Regeln, bei aller Strenge, bei allem Händefalten und Beten, die jungen Menschen werden hier gefördert, bekommen hier Chancen, die andere kaum haben, sie bekommen eine Ausbildung, man nimmt sie an der Hand und geht mit ihnen Job suchen, als Gegenleistung müssen sie funktionieren, alle, die in dieser Gemeinschaft leben, müssen nach ihren Regeln funktionieren, dann sind sie gut aufgehoben, sonst müssen sie wieder gehen. Es dürfte hier sehr hart gehandhabte Grenzen geben, wann wer von welcher Stufe in welche Stufe darf und wann er ins Bodenlose fällt, sprich: wieder auf die Straße muss, trotzdem ist und bleibt die Chance für jeden Einzelnen eine riesige, die er, wenn es ihm irgendwie möglich ist, unbedingt nutzen sollte.

Noch eine Weile allein auf der Dachterrasse. Traumhafter Blick über die Lichter von Bukarest. Unter die Dusche. Morgen muss ich mir unbedingt Obst kaufen. 10 kg Pfirsiche. Es gibt da so einen winzigen Laden.

Tag 1 (15. Juni 2010)

10:25 Uhr Abflug Wien Schwechat. Mein erster „Niki-Flug“. Mit Niki-Aufkleber, Niki-Stimme (Sicherheitsanweisungen), das Flugzeug halbleer, blitzsauber, das Personal freundlich, eine Spur zu freundlich, Himmel wolkenlos, Bukarest 30 Grad, Flugzeit 1,15 Stunden. 119 € für Hin- und Rückflug. Die Autobahn unter mir eine Ameisenstraße, Dunarea (die Donau) eine braune Brühe, die Felder Patchwork, als würde mit dem Lineal gearbeitet. Fensterplatz. Sandwich, Saft, Wasser, Kaffee. Sandwich und Kaffee im Pappendeckel, kein Plastik, sehr sympathisch. Die Zeit fliegt. Ein paar Gedanken an das, was auf mich zukommt, ein paar an das, was ich zurücklasse. Warum ich jetzt eine Woche nach Bukarest fliegen soll, um mir das Ganze anzuschauen, weiß ich zwar nicht, denn ich habe fix und fest vor von Anfang September bis Ende März in Rumänien bei dem Straßenkinderprojekt von Concordia mitzuarbeiten, aber Ruth Zenkert wird schon ihre Erfahrungen haben mit Volontären und jetzt bin ich hier und im Landeanflug und neugierig. Das Patchwork kommt wieder, auch Rumänien schaut von oben ungemein zivilisiert aus, nur kleinkarierter bzw. schmalgestreifter als Austria. Nein, doch nicht so zivilisiert, die Farben sind abgetragener und es gibt riesige Flecken, Flächen ohne Streifen und Karos, wie ausgewaschener Stoff, die Farben in sich zerrissen. Ja, es schaut aus wie Rumänien. Mir gefällt es. Ich freue mich auf dieses Land. Auf die Menschen. Und gelandet. Das Gepäck im Handumdrehen. Noch nie so einen problemlosen Flug gehabt.

Wer wird mich abholen? In der Schildermenge beim Exit auch ein Schild CONCORDIA. Hinter dem Schild ein großer Mann, schlank. Fabian Robu. Er sagt “Frau Martha” zu mir. Ich glaube, er ist die rechte Hand von Ruth Zenkert (er nennt sie „die Frau Generaldirektor von Concordia“). Zur Zeit ist er jedenfalls auch zuständig für die Volontäre, weil der sehr engagiert wirkende junge Österreicher, der sich im Mai bei meinem Vorstellungsgespräch in der Concordiazentrale in Wien als neuer Mitarbeiter von Concordia und für die Programmgestaltung und Einteilung der Volontäre (Mit)Verantwortlicher vorgestellt und auch das Gespräch mit mir geführt hat, nicht mehr da ist. Die Erklärung von Fabian: „Markus war eine Zeitlang bei uns, hat sich aber entschieden doch nicht länger zu bleiben.“ Es muss mindestens 35 Grad haben. Irre heiß. Unser Ziel: Casa Juda.

Casa Juda ist das “jüngste” Concordia-Haus in Rumänien, es wurde im Feber 2009 eröffnet. Es ist ein Jugendhaus (laut Homepage wohnen ehemalige Straßenkinder dort, “die zu einer hoffnungsvollen Jugend herangewachsen sind” und freiwillige Helfer) und zugleich die neue Zentrale von CONCORDIA Rumänien in Bukarest. Das Haus ist groß, schön, neu, sauber, blitzsauber, hell, geräumig, mit einer riesigen Dachterrasse, um das Grundstück herum ein bemalter Zaun, Menschen, die sich an den Händen halten. In den Blumenbeeten liegen bunt bemalte Steine, die Eingangstür wird mit großen bemalten Steinbrocken aufgespreizt. Auch im Inneren des Hauses gibt es ungemein viel Gezeichnetes, Gemaltes, Gebasteltes, es schaut sehr freundlich aus, gepflegt. Natürlich dürfen Jesus und Judas nicht fehlen, gefaltete Hände, Heiligenscheine, kein Problem, es ist ein kirchliches Haus. Was mich abstößt, sind Plakate wie diese. 

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Als Erstes mein Gepäck ins Zimmer, ich werde in diesen Tagen hier wohnen.  Ein Einzelzimmer, sehr freundlich, hell, gleich daneben Dusche und WC, die/das ich mir mit einem zweiten Zimmer, das zur Zeit leer ist, teile. Fabian zeigt mir kurz das Haus. Im Erdgeschoß Büros (es gibt sogar einen eigenen EDV-Mann und eine Journalistin, die für PR und die Zeitung zuständig ist), Küche, Speisesaal, die Kapelle. Im ersten Stock wohnen „die Kinder“, das sind durch die Bank wohlerzogene junge Leute (Alter würde ich schätzen zwischen 15 und 25), die arbeiten oder in die Schule gehen oder studieren, im zweiten Stock sind die Gäste, Volontäre, Mitarbeiter untergebracht plus ein großer Raum, in dem viele Leute zusammensitzen können. Ganz oben die Dachterrasse ist vor allem in der Nacht, aber auch in der Früh beim Morgensport ein Traum. Im Untergeschoß gibt es u.a. einen selbstgebastelten Einkaufsladen, von der Sonnenbrille übers T-Shirt bis zum Brotaufstrich können „die Kinder“ hier alles kaufen und zwar mit einer Concordia-internen Währung, hübsche Papierscheine, die mich an DKT-Geld erinnern, nur nicht so professionell. Und wofür bekommen sie dieses Geld? Für die Mitarbeit, die Teilnahme am Programm. „Wer etwas leistet, muss auch etwas dafür erhalten.“ Im Erdgeschoß im Eingangsbereich ein riesiges Plakat Stift Klosterneuburg. Einer der großzügigen Spender.

Essenszeit. Hühnerleber, Gemüse. Ausgezeichnet. Das Servierteam geschniegelt, zwei der Jugendlichen, die hier wohnen. Einer der beiden hat sogar eine säuberlich gefaltete weiße Serviette über dem rechten Arm hängen. Ich werde aufgeklärt: Die Frau des ehemaligen Direktors des Hotels Hilton in Bukarest bringt den jungen Leuten das Servieren und Tischdekorieren bei. Unter ihre Fittiche nimmt sie vor allem jene, die im Gastgewerbe arbeiten wollen. Super. Ich begeistert. Vor dem Essen ein Gebet, nach dem Essen ein Gebet (ganz kurz). Wir sind plusminus 20 Leute beim Essen. Einige Österreicher, Volontäre, Angestellte, viele neue Gesichter, es prasselt Namen und Funktionen. Muss ich sie mir alle merken? Nein. Lucian, der Leiter des Hauses, ist zur Zeit mit einigen „Kindern“ in Deutschland. Stefanie, eine ganz liebe junge Rumänin, hat etwas wie die Mutterrolle in diesem Haus über. Ein kurzes Grüß Gott mit Ruth Zenkert. „Nach dieser Woche sollten wir wissen, ob und wenn ja, wo/wie wir Sie einsetzen können.“ In dieser einen Woche werde ich hier im Haus Juda und im Straßenzentrum Sankt Lazarus mitarbeiten, erklärt mir Fabian, und am Wochenende fährt er mit mir und einer zweiten künftigen Volontärin, die übers Wochenende aus Deutschland angeflogen kommt, auf die “Farm für Kinder” und/oder in die “Stadt für Kinder”. Super.

Mein heutiges Nachmittagsprogramm: Besichtigung des Sozialzentrums Sankt Lazarus, kurz: “das Laza”.  Das Laza ist die erste Anlaufstelle für die Kinder und Jugendlichen von der Straße. Es ist der erste Schritt von der Straße weg. Im Laza gibt es Essen, Schlafplätze, Duschen, frisches Gewand, ärztliche Betreuung. Alle weiteren Schritte erfolgen von dort aus. Das Laza ist nicht weit vom Juda entfernt. 10 Minuten zu Fuß bzw. dreimal um die Ecke. Und was hängt neben der Eingangstür? Ein großes Multumim (heißt: wir danken) u.a. an das Stift Klosterneuburg und die Stadt Wien. Rund um das Haus und im Garten viele Leute, drinnen fast niemand. Grund: Das Laza ist als Schlafzentrum genehmigt (entspricht in Österreich einer Notschlafstelle), deshalb dürfen sich seine Bewohner untertags nicht bzw. nur im unbedingt notwendigen Ausmaß im Haus aufhalten. In einem Gebäude daneben gibt es einen  Turnsaal, Sanitärräume und Räume für künstlerische bzw. kreative Aktivitäten wie Basteln, Malen, Werken (nennt sich Laza-Art).

Im Gegensatz zum Juda ist das Laza ein riesiges, altes, verbrauchtes Gebäude, eine ehemalige Schule, das/die die Stadt Bukarest Concordia zur Verfügung stellt (erzählt mir ein Volontär), abgewohnt, aber wenn man den ersten Schock des Andersartigen hinter sich hat, eigentlich ziemlich gemütlich. Auch hier überall Gemaltes, Bemaltes, Gebasteltes. Das Haus ist wie seine Bewohner. Es ist nichts Gewohntes, Hübsches, Harmloses. Es ist ein besonderes Haus für besondere Menschen, die spätestens nach dem dritten Blick etwas Liebenswertes an sich haben, die meisten haben sogar ziemlich viel Liebenswertes an sich, viel mehr als viele Stinknormale. Hier ist nichts normal. Wahrscheinlich gefällt es mir hier deshalb so gut. Müsste ich das Haus und seine Bewohner mit einem seiner Möbelstücke darstellen, würde ich diese Bank nehmen:

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Die Menschen, die hier wohnen oder von Zeit zu Zeit Unterschlupf suchen, sind ein buntes Durcheinander. Etliche sind geistig, manche auch körperlich behindert, viele sind psychisch krank, zumindest verhaltensauffällig, viele sind aber auch nur zu ungeschickt oder zu faul oder zu ungehorsam für ein normales Leben und dann gibt es noch diejenigen, die in ihrem Job so wenig verdienen, dass sie sich keine Wohnung, kein eigenes Zuhause leisten können und daher hier im Laza wohnen (im Laza zahlen Berufstätige 200 Lei im Monat, das sind ca. 50 Euro, ob in diesen 200 Lei das Essen inbegriffen ist, weiß ich nicht), es gibt auch Schwangere hier und Mütter, allerdings ohne ihre Kinder, die Kinder sind entweder in Concordia Kinderhäusern oder Kinderhäusern der Stadt oder anderer Hilfsorganisationen untergebracht. Auch in den Geschichten, die die Leute erzählen, gibt es fast immer eine Mutter, meistens unendlich viele Geschwister, auffallend selten einen Vater.

Warum gibt es im Laza keine Kinder? Ich sehe keine Kinder. Auf der Concordia-Homepage ist immer und überall von Kindern die Rede, auch in der Beschreibung des Laza und es sind so gut wie nur Fotos von Kindern abgebildet, auch über dem Text, in dem das Laza (Sozialzentrum Sankt Lazarus) beschrieben wird, ist ein, ich würde sagen, 8-10jähriger, Bub abgebildet und im Text kommt das Wort Kinder öfter vor als irgendein anderes, ich sehe weder im Juda noch im Laza welche. In beiden Häusern gibt es Jugendliche und Erwachsene, aber keine Kinder. Auskunft: Die Anzahl der Kinder, die auf der Straße leben, ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, weil es mittlerweile mehr Angebote von Seiten des Staates bzw. karitativer Organisationen gibt und wenn Kinder  von der Straße ins Laza kommen, werden sie sofort bzw. so schnell wie möglich in anderen Häusern von Concordia untergebracht, in denen nur Kinder wohnen. Gut. Das ist ein Argument und sinnvoll. Der Geschmack ist trotzdem schal, wenn ich an die 100% „kindliche“ Aufbereitung der Website denke. Kindergesichter machen Spenderherzen größer? Außerdem ist der Begriff Kinder dehnbar. Und wahrscheinlich sieht sich Concordia als eine einzige große Familie und in einer Familie bleiben die Kinder immer die Kinder, auch wenn sie 60 sind. (Außerdem sind und bleiben ja auch wir Menschen nach Auffassung der Kirche bis in alle Ewigkeit die Kinder des Vaters im Himmel, egal, wie uralt wir werden, erwachsen werden wir nie, sonst müssten wir irgendwann unserem Vater gleichgestellt sein und das, glaube ich Ungläubige, steht nicht im Kirchenprogramm.) Und vielleicht sind unter den Erwachsenen im Laza von heute auch Kinder von 1991. Moise zum Beispiel ist ein solches Urgestein, das nach wie vor abwechselnd im Laza und auf der Straße lebt. Er ist ein ganz eigener Typ. Liebenswert. Im Moment ist er grantig, der Bauch tut ihm weh, er ist frisch operiert und hat offenbar massive Probleme mit dem Essen.

Ein lieber junger Volontär aus Oberösterreich, der schon eine ganze Weile hier im Laza arbeitet und auch wohnt, führt mich durchs Haus. Zur Zeit arbeiten fünf junge Österreicher im Laza mit, wovon vier auch dort wohnen, sie schlafen zu viert in einem Zimmer, das Bad erbärmlich, Schimmel an den Wänden, zumindest ist die Decke an den Rändern schwarz, in der Mitte des Raumes steht ein Kübel, weil es von der Decke tropft, der Boden ist nass. Manche von ihnen arbeiten völlig unentgeltlich (wie der Oberösterreicher), andere bekommen vom Bundesland, aus dem sie kommen oder von der Organisation, über die sie hierher gekommen sind, ein paar hundert Euro (der Vorarlberger etwa bekommt ca. 350 Euro pro Monat), einer oder zwei sind Zivildiener. Sympathisch sind sie alle fünf. Alle, die hier mitarbeiten, sind sympathisch, an erster Stelle der Hausleiter Marius, aber auch alle anderen Educatoren (schreibt man das so?), die ich im Laufe dieser wenigen Tage gesehen und kennengelernt habe, bis auf einen, dessen Namen ich nicht einmal nennen könnte, weil ich ihn mir nicht gemerkt habe. Es sind schrecklich viele Namen. Die Gesichter merke ich mir sofort, die Namen nicht. Wie es mit Flöhen ist und Wanzen, frage ich und denke an die Notschlafstellen in Wien, in denen diese Tierchen durchaus vorhanden und gelegentlich auch ein Problem sind. Man muss hier im Laza mit Bissen leben, werde ich aufgeklärt, Flöhe gibt es immer wieder, die bekommt man auf Dauer nicht weg. „Du schneidest dir dann einfach die Haare, wäscht dich mit einem Flohshampoon und die Sache ist erledigt. Nicht weiter schlimm. Juckt halt ein bisschen.“ Okay. Ich werde es überleben.

Was mache ich an diesem ersten Nachmittag? Schauen, schauen, zuhören und fragen. Den ganzen Tag über gibt es ein Programm für die Leute. Vor dem Frühstück und vor dem Abendessen Kapelle, am Vormittag vor allem putzen, in der Küche und im Garten arbeiten, viel basteln, werken, Sport, sogar am Abend gibt es ein Programm, zur Zeit ist es meistens die Fußball WM. Programm ist das Wort, das ich in diesen paar Tagen in Bukarest öfter höre als in meinen 54 bisherigen Lebensjahren zusammen. Und die Begriffspaare „wenn, dann“ und „wenn nicht, dann nicht“. Wer auf Dauer hier wohnen will, auch im Laza, muss sich mit dem Wort Regeln vertraut machen, bekommt Punkte oder keine Punkte für das, was er (nicht) tut, mit den Punkten kann er z.B. im hausinternen Cafe Kaffee trinken, ohne Punkte bekommt er auf die Dauer Probleme. Völlig punkte- und regellos kann man hier, wenn ich es richtig verstanden habe, einmal am Tag essen, am Abend, ab 20 Uhr, es sei denn, man hat Hausverbot, und eine Zeit lang schlafen, aber nicht in den Zimmern, glaube ich, am Gang, im Raum gleich neben dem Hauseingang, es sei denn, man hat Hausverbot, sogar am Boden schlafen die Leute oft, wird mir erklärt, zahlenmäßige Beschränkung gibt es keine, auch keine altersmäßige. Zweimal in der Woche kommt eine Ärztin, zweimal in der Woche gibt es ein paar Stunden, da können die Leute von der Straße, die nicht hier wohnen, zum Duschen kommen und sich frische Sachen zum Anziehen holen.

Etwas Besonderes an diesem Nachmittag? Eine Wasserschlacht. Mit dem Gartenschlauch, mit Eimern, zu ebener Erde, aus den Fenstern im ersten Stock, von überall kommt das Wasser her, alles schwimmt, alle lachen, alle machen mit, auch die Volontäre sind tropfnass, Stefanie, die liebe, junge Rumänien aus dem Haus Juda ist auch da, macht auch mit, ist sogar ziemlich “federführend” mit dem Gartenschlauch. Diese Frau mögen, glaube ich, so ziemlich alle hier. Was sie tut und sagt, kommt von Herzen.

Und simsalabim ist es Abend und Zeit für die Andacht in der Kapelle. Bummvoll. Viel Singen, viel Beten, alles Rumänisch. Machen die Leute das freiwillig oder ist auch das Teil des Programms? Etliche Gesichter und Körperhaltungen lassen mich Programm vermuten. Viele sind aber voll dabei, für sie ist das ihr Zuhause, ihre Zuflucht, gibt ihnen Geborgenheit. Auch das steht in den Gesichtern. Sie sind selig mit ihrem Vater im Himmel, selig, dass sie danke und bitte sagen und (endlich?) Kind sein und folgen dürfen, nicht mehr selber denken und entscheiden müssen. Dann Abendessen. Auch hier vorher beten, nachher beten. Die Sprüche, die zu sagen sind, hängen (für die, die neu dazukommen) an der Wand. Es gibt Nudeln. Weich ist ein Hilfsausdruck. Ich werde wieder aufgeklärt: Erstens kann man die rumänischen Nudeln nicht al dente kochen, ihre Zusammensetzung ist anders und/oder das Mehl, und zweitens mögen sie die Rumänen besonders weich besonders gerne. Auch recht. Werde ich hier weiche Nudeln essen, oder, wenn ich weiß, dass es Nudeln gibt, mehr Suppe vorher. Kein Problem. Die Suppe ist übrigens ganz ausgezeichnet. Nach dem Essen begleiten mich Konstantin und John (oder Jon), zwei junge Männer, die im Laza wohnen, ins Juda. Beide freundlich, zuvorkommend, es geht auch ohne Rumänisch ganz gut. Viele hier können ein bisschen Deutsch oder Englisch. Ich fühle mich sehr gut aufgehoben bei den beiden.

Im Juda gehe ich gleich auf mein Zimmer. Ich bin supermüde. Setze mich aufs Bett, schreibe ein langes sms. Es klopft. Helga und Marianne (die Namen sind erfunden). Ob ich noch etwas brauche. Ob ich am Abendprogramm teilnehmen will. Nein danke, sehr lieb, ich will heute nur mehr in Ruhe ausdampfen und dann unter die Dusche gehen, es ist immer noch irre heiß. Die beiden setzen sich ein Weilchen zu mir. Fragen gibt es genug. Zum Beispiel: Wie ist das mit der Andacht? Ist sie Pflicht? Ob sie im Laza Pflicht ist, wissen sie nicht. Hier schon. Hier ist sie Teil der Erziehung. Wer nicht zur gemeinsamen Andacht kommt, darf anschließend auch nicht am gemeinsamen Essen teilnehmen. (Die Kinder müssen deshalb aber nicht hungern, sie haben im ersten Stock eine Küche und in dieser Küche gibt es immer etwas Essbares.) Müssen die Volontäre, die hier im Juda mit den Kindern arbeiten, auch zur Andacht? Ja. Vorbild. Und wenn nicht? Gleich wie „die Kinder“. Noapte bune (Gute Nacht).

Traurig, aber wahr.

Wer meint, CONCORDIA sei oder habe ein großes Herz, irrt. CONCORDIA  ist (so mein persönlicher und im Moment sicher noch sehr vom Schock geprägter Eindruck) ein schmaler Pfad, der links und rechts von hohen Mauern eingesäumt ist. Wer bereit ist, sich jeden Schritt, den er tut, vorschreiben zu lassen, für jede seiner Handlungen Rechenschaft abzulegen, zu parieren wie eine Marionette, Tag für Tag vom Morgen bis in die Nacht hinein Punkt für Punkt des von oben vorgegebenen Programmes abzuarbeiten, mit dem lieben GottVater im Himmel aufzustehen und schlafenzugehen, seine eigene Geistigkeit in den Müll zu werfen und seine Ideale und Ehrlichkeit dazu und sich als Wurm zur Kenntnis zu nehmen, der ist hier gut aufgehoben und geborgen und (falls er schon ein großer Wurm ist)  als Educator geeignet. Für die, die die Sache anders sehen und aufbegehren, heißt es: Go! Ab auf die Straße!

Deshalb bin ich jetzt wieder hier in Österreich (ich habe sogar meinen Rückflug vorverlegt) und werde im September nicht nach Rumänien gehen. Ich bin darüber sehr traurig und ich bin tief verletzt.

Ich werde mir in den nächsten Tagen die Tage und Erfahrungen in Rumänien und mit Concordia von der Seele schreiben und unzensuriert in dieses Blog stellen.

Eu vin. (Ich komme.)

1 Woche Bukarest. 15. bis 22. Juni. Ruth Zenkert meint, ich soll mir das Ganze unbedingt anschauen, bevor ich für 7 Monate hier die Zelte abbreche. Also schaue ich.

Gepackt habe ich. Flugticket. Lei (die Währung in Rumänien). Morgen um die Zeit bin ich schon dort. Wo? Ich glaube, Casa Juda wird mein Zuhause für die nächsten 7 Tage heißen. Ein Jugendhaus, das im Feber 2009 in Bukarest eröffnet wurde. Dort wohnen ehemalige Straßenkinder und freiwillige Helfer. “Unsere Ideenwerkstatt” steht auf der Website und: “Gemeinsam mit allen Bewohnern und Gästen erarbeiten wir die Zukunft des CONCORDIA-Werkes. Wir experimentieren Modelle für eine europäische Jugendarbeit.” Mir wäre das Sozialzentrum Lazarus trotzdem lieber. Das ist DIE Anlaufstelle für die Kinder und Jugendlichen von der Straße. 100 von ihnen können dort übernachten. Aber dort wird man mit einem Neuling wie mir vielleicht für 7 Tage nichts anfangen können. Egal. In einer Woche weiß ich mehr.

PS: Ich bin die älteste Ehrenamtliche dort. Die Seniorin. In meinem Alter macht man “so etwas” offenbar nicht mehr. So etwas machen Jungspunde, die von der Schule abgehen und sich eine soziale Auszeit geben, bevor sie an der Uni inskribieren oder zu arbeiten beginnen. Ich kann es mir aussuchen. Bin ich eine Jung- oder eine Übriggebliebene? Wenn es nach mir geht, gar keine Gebliebene. “a sta” (stehen, bleiben, wohnen, …) ist nicht unbedingt meines. “a pleca” entspricht mir mehr, es hat etwas mit Bewegung zu tun. Auch mit Straße. Meer. Mehr. Offenheit. Weite. Nicht alles, was sich nicht einfangen lässt, ist heimatlos.

PSPS: Heute der letzte meiner 6 Rumänisch-Abende. Ich bin heilfroh. Länger würde ich diese Frau nicht aushalten. Ostblock vor 50 Jahren. Viel hat sie mir nicht beigebracht. Aber wer weiß, vielleicht lande ich im September ohnehin in Moldawien. Alles offen.

WARUM

1) mache ich das?

Ich habe hinten und vorne kein Geld, keine Ahnung, wie’s bei mir weitergeht und trotzdem habe ich nichts Besseres zu tun als mir einen Rumänischkurs plus Lehrbücher zu finanzieren und Tag um Tag 100.000  Scheißvokabeln zu lernen (ich hasse Vokabellernen), mir die Zunge an Wörtern zu zerbrechen, die ich in fünf Jahren noch nicht richtig aussprechen werde können, damit ich 7 Monate unbezahlt in Rumänien arbeiten und mir sogar die Krankenversicherung selber bezahlen darf.

Wäre ich nicht ich, ich würde zu mir sagen: Du hast einen Schuss und nicht nur einen. Du hast eine Maschinengewehrsalve in deiner Birne.

2) macht ein Verleger so etwas?

Einem Schreiberling einen Vertrag anbieten, mit ihm diesen Vertrag abschließen, den Vertrag nicht einhalten, sich furchtbar darüber aufregen, wenn der Schreiberling sich herausnimmt den Vertrag zu lesen, das Angebot ein weiteres Buch zu verlegen nach dieser Auseinandersetzung trotz ausdrücklicher Anfrage nicht zurücknehmen (”Du kennst mich ja: Wenn ich zusage, sage ich zu.”), das Verlegen aber hinauszögern (”Ich dachte, du hast aufgehört zu schreiben.”), aber weiterhin zusagen (”Heuer bin ich schon voll, aber schick mir das Manuskript bis Anfang Juni 2010.”) um dann den Schreiberling, der sich auf diese wiederholte Zusage verlassen hat, genüsslich vor der Tür verhungern und ein (zumindest inhaltlich) ziemlich gutes Manuskript in der Schublade verschwinden zu lassen (”Ich habe dein Manuskript in deinen Ordner gelegt.”) und bei dem Ganzen bis ins Innerste seines Innersten davon überzeugt sein ein Superguter zu sein, ein Künstler, der nur der Kunst und den armen Schreiberlingen zuliebe nebenbei auch noch die Drecksarbeit eines Verlegers macht.  

Selber schuld. Schreiberlinge, die sich auf solche Zusagen verlassen, sind … Maschinengewehrsalve in der Birne und so.

Buna ziua!

Das Hackerl am “Buna-a” kann ich nicht machen, die Tastatur meines Laptops ist nicht rumänisch-tauglich.

Jeden Montag 17:30 - 20:30 Uhr, VHS Meidling, RUMÄNISCH FÜR DEN URLAUB.

6 Abende, 108€ plus Lehrbuch mit Begleitbuch “Rumänisch für Sie”, Hueber Verlag, ISBN 3 - 19 - 005088 - 0 und ISBN 3 - 19 - 025088 - x, 25,70€ und 22,60€, insgesamt also 157€.

Die Bücher sind in Ordnung, der Kurs auch, der Vortrag ist nicht berauschend, aber was soll’s. Müsste ich die Vortragende ein ganzes Semester aushalten und hätte ich großartig die Möglichkeit zu wählen, würde ich mir einen anderen Kurs nehmen. So nehme ich, was da ist und das passt. Ich hätte mir auch einen Kurs um 360€ nehmen können … Aber dann dürfte ich nicht machen, was ich mache. Dann müsste ich in Österreich bleiben und Geld verdienen.

Es ist aber nicht so, dass man unbedingt einen Rumänisch-Kurs belegt haben muss, bevor man als Volontär bei CONCORDIA mitarbeiten darf, aber es ist sehr von Vorteil, für beide Seiten. Wenn ich daran denke, dass ich hier meine Zelte für 7 Monate abbreche und wieder einmal kopfüber in ein Stück Neuland springe, möchte ich wenigstens die Leute ein bisschen verstehen und mich ihnen verständlich machen können. In Bukarest finden natürlich Intensivkurse statt, aber wenn ich dort bin, habe ich so viel Neues zu bewältigen, ich möchte mich dabei wenigstens bruchstückhaft verständigen können. Außerdem - die Straßenkinder dort sprechen rumänisch. Also werde ich es auch lernen, so schnell wie möglich, denn wozu sonst bin ich dort?  Außerdem macht es mir Freude. Es gehört zur Vorbereitung. Zur Einstimmung.

Danke Leben, dass du mir gestattest so unvernünftig zu sein, wie ich bin! Ich hoffe, ich mache dir keine Schande! Und jetzt geht’s zum Vokabelheft. Heute Lektion 3 - “In avion” (auf das I gehört ein Dacherl).

Also: Viel Freude bei dem, was ihr macht in und mit eurem Leben! Pe curand! (auf das a bitte ein Dacherl denken)

Muttertag und Straßenkinder.

Heute ist Muttertag. Ein guter Tag für einen ersten Schritt auf ein neues Stück Neuland. Auf diesem Stück gibt es viele Kinder. Und viele engagierte Menschen. Dieses Stück liegt nicht in Österreich. Rumänien. Moldawien. Bulgarien. Concordia. Pater Georg Sporschill. Ruth Zenkert. Irgendwann habe ich einen Beitrag im Fernsehen über ihre Arbeit mit Straßenkindern gesehen. Im November 09 bin ich über die Website gestolpert. Gestern war ich bei einem Gespräch in der Concordia-Zentrale in Wien.

Im Juli ein paar Wochen “schnuppern”. Und wenn mich dann nicht alle guten Geister verlassen, ab September 7 Monate. Rumänien. Ich freue mich. Mein Blog auch. Es gibt wieder Literatur Leben.

www.concordia.or.at    

Alles Gute allen Müttern. Vor allem denen, deren Kinder auf der Straße gelandet sind. Dieser Wunsch kommt von Herzen und es ist kein Bruchteil Abfälligkeit dabei. Erstens, weil ich selber “so eine” bin, deren Kind (zwar nicht als Kind, aber trotzdem) immer wieder auf der Straße landet und daher weiß, wie viele von meiner Sorte es gibt und wie viele von diesen vielen alles tun würden, um ihre Kinder wieder “an Bord zu holen”, ihnen die Hand immer und immer wieder hinstrecken und ein Nein nach dem andern an den Kopf geknallt kriegen. Zweitens, weil wir Wohlstandsbürger mit ungemein viel Wonne und Fingern auf Menschen zeigen, deren Schicksal wir nicht kennen, deren Armut wir uns nicht einmal vorstellen können, ihre Ohnmacht, und dabei mit mindestens ebenso viel Wonne und Vehemenz übersehen, dass wir, so wie wir mit der Welt umgehen, unsere Kinder allesamt auf die Straße schicken. Ohne Ausnahme. Jeder von uns. Welches Zuhause werden die nächsten Generationen haben? Bitte jetzt nicht sagen: “Das sind die andern.”

In diesem Sinn: Alles Gute allen Müttern aus ganzem Herzen!

Der Sommer ist fast da. Die Blog-Lebensgeister …

Buchmanuskript fertig.

Morgen eine Besprechung.

Dann könnte es wieder losgehen …?

Alles Gute zum Geburtstag!

Begonnen hat alles mit einem Totenkopf. Ich saß an meinem Schreibtisch, es war Feber 2009, irgendwo am Ende der ersten Hälfte, und wartete. Auf eine Idee. Mein Blick fiel auf eine Fotografie mit einem Totenschädel. Und da war sie:

“Ich gehe in die Gruft! Zu den Obdachlosen! Und über meine Erfahrungen schreibe ich ein Internettagebuch!”

Ich setzte mich sofort mit der Gruft in Verbindung, dort war aber kein Platz für mich, sprich: sie brauchten keine Ehrenamtlichen. Andere Einrichtungen, die Obdachlose betreuen, waren mir nicht bekannt. Ich hatte mich nie mit diesem Thema beschäftigt. Ich kannte Obdachlose nur als Augustinverkäufer und den Namen Cecily Corti hatte ich irgendwo im Hinterkopf, über sie und ihre Notschlafstelle hatte ich beim Warten in einer Ordination einmal in einer Zeitschrift gelesen. Also startete ich eine Erkundungstour im Internet von der Website der Stadt Wien aus und landete bei der Ehrenamtsbörse und ein paar Tage später, konkret: gestern vor einem Jahr um 19:30 Uhr im KuckucksNest, der Notschlafstelle für “jedermensch”. Erhart, die Seele dieser Einrichtung, übrigens eine hundert Prozent ehrenamtliche Seele, empfing mich, wie er jeden Menschen empfing, der ins KuckucksNest kam. Herzlich. Mit offenen Armen. Am nächsten Tag, also heute vor einem Jahr, verfasste ich den ersten Blogeintrag. Der Titel:

AUF DER STRASSE IST AUCH EIN WEG.

Diesen Titel gibt es immer noch. Er ist ein guter Titel. In ihm hat ungeheuer viel Platz. Nicht nur Wohnungslose, auch Freigeister sind unter diesem Dach zuhause, Flüchtlinge, Weltenwanderer, Pilger … Bis jetzt können alle gut miteinander. Vielleicht können sogar Blog und Buch miteinander. Aber das werden wir erst am 2. Geburtstag wissen.

Alles Gute! Und danke! Du machst mir viel Freude! 

Viel Lärm um nichts?

2010  ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.

Es soll “europaweit im Feld der Armutsbekämpfung sensibilisieren, informieren und aktivieren”, erklärt Sozialmininster Rudolf Hundstorfer. Details unter www.bmask.gv.at und www.2010gegenarmut.at.

Morgen (sprich: fast zwei Monate nach seinem Beginn) ist der offizielle Start der österreichischen Aktivitäten in Salzburg. Eröffnung durch Bundespräsident Dr. Heinz Fischer.  

Warum so spät? Warum ausgerechnet in Salzburg? Warum so viel Pomp?

Wer so wohnt

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   ist nicht obdachlos?

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Ein junger Mann.

Immer wieder auf der Straße und wenn nicht, haarscharf an ihrem Rand. Schreibt Lyrik. Ich stelle ein Gedicht von ihm in dieses Logbuch. Ich begehe damit zumindest eine Urheberrechtsverletzung. Er würde es mir nämlich nie erlauben. Trotzdem. Dieses Gedicht ist ein Gedicht. Er hat nicht das Recht es in den Müll zu werfen. (= Güterabwägung einer ExJuristin)

WENN ICH

ALLES

VERACHTE

was nicht

so

ist

wie ich

es

gern

hätte

 

wenn ich

mich

verachte

dafür

dass ich

so

bin

und nicht

so

bin

wie ich

mich

gern

hätte

 

verachte

ich

mich

dafür

dass ich

gerne

so

bin

weil

es leicht

ist

leichter

als

sich

zu lieben

und alles

andere

 

was nicht

so

ist

wie es

sich

gern

hätte

Nur still. Nicht starr.

Beim Braunbär heißt dieser Zustand Winterruhe und hat etwas mit dem Nahrungsangebot zu tun. Er dauert bis zu sieben Monate, die der Bär in seiner Höhle in einem Dämmerschlaf verbringt. Es gibt aber auch wesentlich weniger stark ausgeprägte Formen. Das Eichhörnchen etwa ist das ganze Jahr über aktiv, wenn der Winter allerdings streng ist, beschränkt es sich aufs Nüsseknabbern im Nest. 

Bei diesem Logbuch sage ich zu diesem Zustand Stille Zeit. Wie still und wie lang still, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, warum still. Weil ich schreibe. Und wenn ich schreibe, schreibe ich und beim Schreiben tun sich selten Blog-würdige Dinge.

Leseprobe aus Zwei T-Shirts für 700 Kilometer

Die Herberge ein altes Kloster. 80 Betten in spartanisch schönen, hohen, alten Räumen. Das Bett, das heute mein Bett ist, ebenso spartanisch, das obere eines frei im Raum stehenden Stockbettes, links und rechts nichts, auch keine Leiter, sprich: ich habe Turnübungen vor mir in der Nacht, falls ich das Bett nicht schon vorher unfreiwillig verlasse weil herausfalle. Nur ein wackeliger Stuhl steht neben jedem Stockbett am Steinboden, dessen Sitzfläche man als (einzige) Leiterersatzsprosse verwenden kann oder auch nicht. Andernfalls muss man vom Bett herunter springen, das habe ich schon gesehen, hinaufhechten noch niemand. Oder man steigt dem, der unten schläft, in/neben das Gesicht oder (besser) auf/neben die Füße. Aber das ist nicht das vordringlichste Problem. Die Frage ist, ob ich die Matratze überhaupt verlassen werde können, weil sie durchgelegen ist wie eine Badewanne, eine Hängematte, aus deren Tiefe ich mich hoffentlich hinaufhanteln werde können bis an ihren Rand, ich muss nur aufpassen, dass ich es nicht mit zu viel Schwung angehe, sonst lande ich erst wieder am Steinboden. Aber ich muss ohnehin zuerst meine Bauchtasche suchen in den Tiefen dieser Hängematte und in der Bauchtasche das Brillenetui und die Stirnlampe und im Brillenetui die Brille und bis ich das alles gefunden und auf der Nase und am Hirn habe, werde ich sicher ganz wach sein und den Abstieg entsprechend bewusst und vor allem sehr zielorientiert in Angriff nehmen.
   Die Sanitäranlagen dürften jünger sein als ich, ich schätze sie auf dreißig bis vierzig Jahre. Aber das stört mich nicht, weil sie sauber sind, das Wasser beim Duschen warm ist, die Klospülung funktioniert einwandfrei, sogar Klopapier ist da.
   Das alles (Schlafräume plus Sanitäranlagen) ist im ersten Stock und windet sich um einen kleinen, quadratischen Arkadenhof herum, durch den sich die Wäscheleinen ziehen wie Spinnweben, von Steinsäule zu Steinsäule, zu ebener Erde ungenutzt, im ersten Stock dicht behängt. Auch über der steinernen Brüstung hängen die Handtücher und T-Shirts, wobei die T-Shirts eher auf ihr liegen als über ihr hängen, so dick ist sie. Der Blick in den Hof hinunter, in den Himmel hinauf, ein Traum, die Atmosphäre, die Architektur, das ganze Gebäude. Die Stiegen breite, geschwungene Aufgänge, die Wände in diesen Bereichen holzvertäfelt, im Erdgeschoß alles mögliche und der riesige Saal, in dem wir die berühmte Knoblauchsuppe löffeln, der zumindest heute das Salz fehlt und der Knoblauch. Ich trinke sie, weil die Löffel ausgegangen sind und ich die Entwicklungsstufe noch nicht erreicht habe, in der ich die Suppe mit einer Gabel essen werde können, auch wenn der Mann mit dem großen Schöpfer mir das offenbar zutraut, weil er mir mit der Bemerkung „Es ist viel Brot drinnen.“ die volle Suppenschüssel plus eine Gabel in die Hand gedrückt hat. Habe sofort ein Foto gemacht. Das sind die Herausforderungen des modernen Pilgerlebens!

Und die passenden Fotos dazu:

 bild0521

 

 

bild0441

 

bild046

Es stimmt nicht.

Dass ich nicht mehr daran denke, dass alle 6 Sekunden ein Kind an Hunger stirbt und dass das 10 Kinder in der Minute sind, 600 Kinder in der Stunde, 14.400 pro Tag, 432.000 pro Monat (mit 30 Tagen) und 5.184.000 pro Jahr. (Eintrag 6 sec)

Wie das ist? Wie ein Schmerz, gegen den man keine Tablette nimmt. Der einen nicht in Ruhe lässt, bis man einen Zustand erreicht hat, in dem er nachlässt. Eine Tür, die man nicht zumacht. Durch die etwas hinausgeht, aber auch etwas hereinkommt. Seit heute sitzen “zwei Kinder” mit mir am Tisch. Eines aus einem Waisenhaus in der Ukraine und ein Baby aus dem Kongo. Heute wird zum ersten Mal abgebucht. Einziehungsauftrag.

Ich dachte bisher, so etwas kann ich nicht machen, dazu ist mein Einkommen viel zu klein, Geld spenden sollen die Menschen, die sonst nichts beizutragen versuchen, dass ”die Luft auf der Welt” besser wird. Aber dann war am 16. oder 17. November die Mitteilung im Fernsehen von den 6 Sekunden. Und am 21. war ich frischen Thunfisch kaufen. Ab heute kaufe ich keinen frischen Thunfisch mehr. Und ich bin zuversichtlich, dass  frischer Thunfisch nicht das Einzige ist, das ich weglassen kann ohne am Abend hungrig ins Bett zu gehen.

6 sec

Alle 6 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger. Das sind 10 Kinder in der Minute, 600 Kinder in der Stunde, 14.400 pro Tag, der UN-Welternährungsgipfel in Rom dauert 3 Tage, in dieser Zeit sterben 43.200 Kinder, pro Monat (mit 30 Tagen) sind es 432.000, pro Jahr 5.184.000 (wenn ich für jeden Monat 30 Tage nehme). Vielleicht habe ich mich auch verrechnet. Aber spielt das bei diesen Zahlen eine Rolle?

Geht es nur mir so? Je größer die Zahl, desto weiter weg, kleiner. Kann sich irgendjemand 5.184.000 Kinderleichen vorstellen?

Seit ich da herumrechne und -tippe sind mindestens 100 Kinder gestorben. Und jetzt gehe ich ins Bett und wenn ich aufwache, denke ich nicht mehr daran.

KANN  DAS  IRGENDEINER  ANGREIFEN?