Dieses Buch zu schreiben, ist schrecklich.

Es sind lauter Fetzen.

Zeitraffer.

8.2. Der erste Abenddienst. Tunesien: Der Diktator ist weg, was kommt jetzt? 9.2. Schreibwerkstatt. 10.2. Haus für Projekt VinziRast-Mittendrin in der Währingerstraße anschauen. Ägypten: Mubarak ist weg. 12.2. Abenddienst. 14.2. Abenddienst. 17.2. Abenddienst. 19.2. Abenddienst. 20.2. Abenddienst und Nachtdienst in der Dependance (zusätzliche Schlafmöglichkeit während der Wintermonate in einem Sportclub). 23.2. Malwerkstatt und Abenddienst. 24.2. Nachtdienst. 27.2. Nachtdienst. 28.2. Teambesprechung. 2.3. Schreibwerkstatt mit einem “fliegenden Fisch” (die “fliegenden Fische” sind eine Theatergruppe aus Berlin) und Abenddienst. Fetter Eintrag im Tagebuch: “Es wird schwierig über das alles ein Buch zu schreiben ohne jemand zu verletzen, zu gefährden.” 3.3. Treffen mit der Leiterin der Malwerkstatt. 5.3. Faschingskonzert. Nachtdienst. Fetter Eintrag im TB: “Ich glaube, ich muss noch ein halbes Jahr warten, bevor ich ein Buch schreibe, verwirrend verwirrt alles.” 7.3. Besprechung für neue Mitarbeiter. Libyien: Gaddafi: “Mein Volk liebt mich!”  9.3. Schreibwerkstatt mit Schauspiel. Japan: Erdbeben der Stärke 8,8 und Zunami. 11.3. QiGong und Abenddienst. Japan liegt jetzt weiter östlich als vor einer Woche noch, die Geschwindigkeit der Erdrotation hat sich erhöht, die Erdachse verschoben, AKW Fukushima … 13.3. Nachtdienst. Fette Eintragung im TB: ”Ich glaube, ich muss das Buch schnell schreiben, ich weiß zwar nicht wie, aber schnell, es ist jetzt nicht die Zeit für langsame Geburten.” 15.3. Gespräche mit Mitarbeitern. 16.3. Schreibwerkstatt mit Schauspiel. Es gibt weltweit kein einziges Endlager für den Atommüll! Wie viele AKWs gibt es? 18.3. Abenddienst. 19.3. Abenddienst. Seit dem Erdbeben letzten Freitag 262 Nachbeben. 20.3. Der Luftraum über Libyien ist gesperrt, ein Teil davon. 22.3. Versuch den Macher-Studenten des Projektes VinziRast Mittendrin zu erwischen, aber er hat mein Flehen nicht erhört. 23.3. Zwei Gespräche und Abenddienst. Die rosarote Brille verliert an Farbe. 24.3. Aufführung “König Midas in Wien, Dionysos im Herzen”. 25.3. Heute vor 10 Wochen Tunesien, heute vor 6 Wochen Ägypten, in Libyien bekämpft Gaddafi sein Volk und die Nato ihn, in wievielen Staaten rundherum brodelt es? 27.3. Ein Gespräch und dann Abenddienst. 29.3. Nachtdienst. Forderung Bundespräsident Fischer (Anlass Strasser): “Saubere Hände in der Politik müssen wieder selbstverständlich werden.” Weltweit gibt es über 400 AKWs. 31.3. Nachtdienst. Für meinen Geschmack benutzen viel zu viele die Notschlafstelle als billige Absteige. 1.4. “Wir maßen uns kein Urteil über die Bedürftigkeit unserer Gäste an.” 

Was wird das?

“Da müssen Sie bei Architektur schauen.”

Gestern war ich in einer der größten Buchhandlungen in Wien, drei Minuten vom Stefansplatz. Ich wollte mich umschauen, welche Bücher es zum Thema Obdachlosigkeit gibt. Ein bisschen in die “Konkurrenzliteratur” hineinschmökern. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte zu suchen, ging ich zur nächstbesten Auskunft im Erdgeschoß: Meine Frage: ”Wo finde ich Bücher, die sich mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigen und mit Personen und Einrichtungen, die obdachlose Menschen betreuen?” Die Antwort: “Da müssen Sie bei Architektur schauen. Und bei Psychologie. Beides im ersten Stock.” “Bei Architektur?” Ich weiß, dass ich schlecht höre, aber … “Na, Sie haben ja von Einrichtungen gesprochen.”

Im ersten Stock der nächste Versuch, soll heißen zur nächsten Auskunft. Ich stelle die gleiche Frage und die junge Dame schaut mich genauso an, wie der Mann eben im Erdgeschoß. Nein, da weiß sie nichts, dass es hier etwas gäbe. Ich kann es nicht glauben, fange an zu bohren. “Haben Sie keine Bücher wie z.B. das Buch über Pfarrer Pucher? Der Untertitel ist irgendetwas mit Rebell. Geschrieben hat es die Journalistin, die auch das Buch über Ute Bock geschrieben hat.” Es dauert eine Weile. Die junge Dame lässt mich nicht an ihren Gedankengängen teilhaben. Keine Ahnung, was da so lange dauert. “Gehen Sie da nach vor und dann nach links. Die Bock ist bei der Politik und der Pfarrer bei der Theologie.”

Ich gehe nach vor und nach links und stehe vor der nächsten Auskunft. Der Mann unterscheidet sich zum Glück heftig von den zwei Auskunftgebern, die ich bis jetzt hatte. Er ist sehr freundlich und sehr kompetent. Aber er findet trotzdem nichts. Ein Kinderbuch (Kirsten Boie, ein mittelschönes Leben) ist da. Im Erdgeschoß. Das Buch über Pfarrer Pucher ist nicht bei der Theologie, weil nicht mehr lagernd. “Das Buch ist über ein Jahr alt. Wenn nicht genügend Nachfrage da ist, bestellen wir es nicht mehr.” Aber er bestellt es mir gerne zur Ansicht. “Damit Sie nicht verpflichtet sind es zu nehmen.” Dann geht er mit mir Listen durch zu verschiedenen Themenbegriffen, schickt mir sogar eine an meine Mailadresse, erklärt mir, wie ich auf der Website der Buchhandlung Bücherlisten finde und wie ich sie durchsuche. “Wenn Sie auf den Listen Bücher finden, die Sie sich gern anschauen möchten, schicken Sie mir ein Mail. Vielleicht kann ich Ihnen das eine oder andere bestellen.” Eine Buchhandlung, wo ich auf Anhieb mehr Bücher zu diesem Thema finde, kann allerdings auch er mir nicht nennen.

BEGIN

72 Fenster. 16 schauen auf die Währinger Straße, 56 auf die Lackierergasse. Mit Scheiben, ohne Scheiben, mit Löchern in den Scheiben, zum Teil von innen mit Brettern vernagelt, manche zwischen den äußeren und inneren Scheiben vergittert, die Bretter und Gitter bemerkt man aber nur, wenn die Scheiben Löcher haben oder fehlen, weil sie so dreckig sind, ausschauen wie verschlissene Vorhänge aus Milchkaffee in wunderschönen, aber irreparabel verfallenen Holzrahmen, die fast das gleiche dunkle Braun haben wie die Mauern der beiden Obergeschoße. Zu ebener Erde ist vieles anders, die Mauer ein graues Weiß, zur Währinger Straße hin ein abgrundtief hässliches Plastikglasportal der gewesene Eingang in ein gewesenes Geschäft, anschließend und um die Ecke in die Lackierergasse acht Fenster in lila Plastikrahmen in lila Fensterrahmen, die Mauerrahmen rund um die lila Fensterrahmen rosarot, über den Fenstern in der Mauer zweimal der Schriftzug KINDERWAGEN, zweimal elf leere Buchstabenbetten, einmal an der Front Währinger Straße, einmal an der Front Lackierergasse. Die restlichen 16 Fenster und drei Türen im Erdgeschoß Lackierergasse wieder von der alten Sorte, verfallen aber zum Umfallen schön, auf eine zersplitterte Fensterscheibe hat ein mutiger Finger You will be good! geschrieben, die Tür daneben hinter einem rostigen Rollladen, das anschließende Fenster mit einem silbernen Klebeband zugeklebt, ein paar Fenster weiter eine vollgeschriebene und -geschmierte Tür, auf dieser Tür ein Plakat, ein Foto, das protestierende Studenten und stehende und fallende Absperrungen zeigt und über dem Foto die Wortfolge THE SECRET IS TO REALLY und darunter doppelt so groß BEGIN, nicht weit von dem BEGIN die kleine Türschnalle aus Messing, in einem ausgebohrten Loch darunter das Schloss. Ich stehe vor meinem Buchcover, noch bevor ich einen Buchstaben geschrieben habe, denke ich, und vor dem Satz des Jahres 2011. Tunesien. Ägypten. Es funktioniert. Es wird auch bei uns funktionieren, wenn wir es tun: really begin. Der Tharir-Platz ist überall. Ein junger Mann mit einer Scheibtruhe kommt, sperrt die Tür auf. Ob ich mir das Haus auch von innen anschauen darf, frage ich, ich arbeite in der Notschlafstelle VinziRast mit. Er lacht entschuldigend: “Ich muss leider gleich wieder weg. Ich hole nur etwas. Aber in einem Monat können Sie wieder kommen. Da fangen wir mit dem Umbau an.”  Er schiebt sich mit seiner Scheibtruhe durch die Tür ins Haus. Ich bremse meine Neugier mit Mühe und folge ihm nicht. Gehe weiter. Vier Fenster noch, dann ist das Haus zu Ende. Da es breiter ist als das anschließende, ein Stück weiter in die Lackierergasse hineinreicht, sieht man noch einen Streifen seiner ehemaligen “Wetterseite”, die fensterlos und verschindelt ist. Von oben nach unten auf den Schindeln der Schriftzug: Fortuna KINDERWAGEN EIGENE ERZEUGUNG HIER IM AUS. Das H vor und das E nach dem AUS sind fast vollständig von neu(er)en Schindeln überdeckt.

Und hinter dieser bröckelnden Fassade, die dem (W)Ort “obdachlos” wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Plusminus 1500 Quadratmeter ungenutzte Nutzfläche mitten in Wien. Einen besseren Platz für das Projekt VinziRast-Mittendrin hätte man nicht finden können.

Was das für ein Projekt ist? Hier zwei Links zu detaillierten Informationen: www.vinzirast.at und www.indivolution.tk.

Nur so viel: Anlässlich der Besetzung des Audimax 2009/2010 haben Studenten und Obdachlose einander kennengelernt und dieser Kontakt mündete in die Idee einiger Studenten einen “Ort der Begegnung von Studierenden, Obdachlosen und interessierten Menschen” auf die Beine zu stellen. Und genau das geschieht hier durch die Vinzenzgemeinschaft St. Stephan (Trägerverein der Einrichtung VinziRast-CortiHaus), Studenten (warum sie sich lieber Studierende nennen, weiß ich noch nicht), private Sponsoren und freiwillige Helfer (dazu zähle ich auch die vielen wohnungslosen und ehemals wohnungslosen Hände, die fleißig mit anpacken). Geplanter Baubeginn Sommer/Herbst 2011, geplante Eröffnung Herbst/Ende 2012. In diesem Haus soll es dann u. a. geben: ein Restaurant/Cafe ohne Konsumzwang, für jedermann zugänglich, mit einem guten, einfachen Essen, verschiedene Werkstätten, in denen vor allem wohnungslose Menschen ihre Talente und Fähigkeiten wieder entdecken, ausleben, vielleicht als Sprungbrett in die Arbeitswelt (zurück) nutzen können, Räume für Beratungen in verschiedensten Bereichen, Veranstaltungen wie Filmvorführungen, Lesungen, Vorträge, es soll auch Platz zum Arbeiten und Studieren für Studenten geben, auch eine Zusammenarbeit mit einigen Instituten der Universität Wien ist geplant, die Studenten sollen im Haus verschiedene Praktika machen können und Forschungsarbeiten, und als Tüpfelchen auf dem i soll es auch Wohneinheiten geben für Studenten und (dann nicht mehr) obdachlose Menschen, die, solange sie hier wohnen, in verschiedensten Bereichen im Haus und an der Weiterentwicklung des Projektes mit- und zusammenarbeiten.

Ein Halbsatz aus www.indivolution.tk (Fassung 11.2.2011), der mir gefällt: “… wohnungslosen Menschen … eine neue, ganz andere Möglichkeit angeboten wird in der Zeit von 08:00 bis 18:00 von Montag bis Sonntag einmal anzukommen mit ihren ureigenen Talenten und Fähigkeiten …” Ich würde nur das Wort wohnungslos weglassen.

Hier liegt der Anfang für mein Buch. Irgendwo.

“Haben Sie schon einen Plan?”

“Haben Sie schon einen Plan für das Buch, das Sie schreiben wollen? Einen Titel?” Hat Cecily Corti mich gefragt, als ich mit meiner neugeborenen Buchidee zu ihr kam.

Nein. Kein Plan. Kein Titel. Nur eine Idee (siehe Artikel Zehn Tage ist sie jetzt alt. Die Idee.) und die hält noch mucksmäuschenstill. Man sieht noch nichts. Nicht einen Buchstaben.

Bisher hat es ein Gespräch gegeben und drei Tage später war ich bei meinem ersten Mitarbeitertreffen. Dann habe ich meine Reisetasche gepackt und bin ins Gebirge gefahren, in den Schnee. Morgen fahre ich wieder zurück. Übermorgen habe ich den ersten Abenddienst in der Notschlafstelle. Am Mittwoch bin ich am Nachmittag dort und mache bei der Schreibwerkstatt mit, die eine Schriftstellerin für Gäste und Mitarbeiter, die mitmachen wollen, veranstaltet, am Freitag bin ich wieder am Nachmittag dort, diesmal wird QiGong angeboten, am Samstag habe ich wieder Abenddienst, am Montag habe ich wieder Abenddienst …  soll heißen: Ab übermorgen geht’s los. Und wie ich mich kenne, wird es mich packen und ausfüllen wie eine Reisetasche, bis der Reißverschluss fast nicht mehr zugeht. 

Ich habe keine Routine im Bücherschreiben. Aber ich glaube, wenn ein Buch ein Buch ist und keine “Arbeit”, lässt es sich nicht planen. Es entsteht, wächst, entwickelt sich von selbst. Bücher sind wie Kinder, Teil von einem und doch etwas völlig Eigenes. Kein Kuchen, den man nach Rezept kochen kann. 

Ich hoffe, wir beide (die Buchidee und ich) werden gut zusammenarbeiten, miteinander kommunizieren können. Ich bin nur der Schrift-Steller.

Übriggebliebene. Bücher. Menschen.

Der Vertrag mit meinem Verlag ist ausgelaufen. Ich habe alle Rechte an Grenzenlos wieder, er hat noch knapp 100 Bücher. Aber nachdem der Vertrag ausgelaufen ist, verkauft er sie nicht mehr. Er hat sie mir zu einem einmaligen Autorensuperrabatt von 50% angeboten. Andernfalls müsse er sie vernichten. Ob das Wort vernichten in diesem Zusammenhang bewusst gebraucht wird, kann und will ich nicht beurteilen. Weh tut es so oder so. Auch dass die simple Tatsache, dass ein Buch auch dann noch ein Buch ist, wenn der Vertrag zwischen Verlag und Autor ausgelaufen ist, (m)einem Verleger offenbar fremd ist, tut weh, dass mein Vertragspartner nur Geschäftsmann ist, sonst nichts. Wäre er der, für den ich ihn irgendwann einmal gehalten habe, dürfte seine Liebe zu Büchern nicht mit den Verträgen mit seinen Autoren enden wie eine Klopapierrolle, die aufgebraucht ist, würde er Bücher, die er während der Vertragslaufzeit als Kunst-Stücke bewirbt und verkauft, nicht von einem Tag auf den anderen als gebundene oder geleimte Stöße Altpapier betrachten und entsorgen. Zwei Zeilen im Vertrag würden genügen (und nicht einmal die wären wirklich notwendig) und er könnte mit diesen Büchern Menschen Freude machen statt Müllcontainer füllen. Es würde ihn ein paar Telefonate kosten und schlimmstenfalls ein paar Liter Benzin, ein paar Euro Portokosten. Ich habe ihm ein Mail geschrieben, ihn gebeten darüber nachzudenken, ob er die vielen übriggebliebenen Bücher seiner vielen auslaufenden Autoren nicht lieber verschenken möchte statt sie zu vernichten. Immerhin verlegt er pro Jahr plusminus 15 Bücher, jeweils mit drei Jahren Vertragsdauer. Das ergibt jedes Jahr, selbst wenn er nur zwei oder drei Autoren dabei hat, die ihm ihre übriggebliebenen nicht abkaufen, einen kleinen Bücherberg, den er an verschiedene Einrichtungen und/oder gemeinnützige Organisationen weitergeben könnte, die diese Bücher entweder den von ihnen betreuten Menschen zum Lesen überlassen oder sie auf Flohmärkten verkaufen und den Erlös für einen guten Zweck verwenden.  

Übriggebliebene Bücher sind wie Menschen, die “für nichts (mehr) gut sind”, die ausgemusterten, die nicht funktionieren, die sich nicht rentieren, mit denen kein Geschäft, kein Geld (mehr) zu machen ist. Sie (die Bücher und die Menschen) gehören dazu, sie sind sogar ziemlich wichtig, weil man (mit) ihnen “nur mehr” Gutes tun kann. Sie fordern uns, holen das Schlechteste oder Beste aus uns heraus. Sie sind eine riesengroße Chance. Für jeden von uns. Für uns als Gesellschaft.

Die 2011er-Bewegung.

Ein Politikwissenschaftler sagte gestern in einem Interview, die Umsturz- und Aufbruchbewegung in Tunesien und Ägypten und das zunehmende Aufbegehren in den anderen nordafrikanischen Ländern gegen die alten diktatorischen Regime würde zum Großteil von der sog. Facebook-Generation getragen, jung, gebildet, Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die in diesen alten, verknöcherten Systemen keine Zukunft sieht und hat, keine Arbeit, keine Perspektive. Und dass diese Bewegung bzw. Generation als die 2011er in die Geschichte eingehen würde wie die 68er.

Wo ist unsere 2011er Generation/Bewegung?

Auch wir, die wir in modernen Demokratien leben, unterstehen einem Diktator, der schon viel zu lange an der Macht ist - Geld, Profit, Wirtschaftswachstum über alles, Egoismus (sind einige seiner Namen) - dessen sofortiger Abtritt notwendig ist, soll die rapide (Zer)Störung des ökologischen Gleichgewichts gestoppt, der Selbstmord der entwickelten und die Ermordung der weniger entwickelten Gesellschaften durch unsere blinde Hab-Gier noch verhindert werden. Auch bei uns müsste der Wechsel vom Alten zum Neuen sofort beginnen, sollte er noch etwas bewirken. Auch bei uns haben die jungen Generationen keine Zukunft weil keine andere Perspektive, als die Schulden, die wir machen, zu bezahlen. Auch wir müssen jetzt und sofort gegen unseren Diktator an- und auftreten, weil wir jetzt und sofort Platz für etwas Funkelnagelneues brauchen, etwas völlig anderes als das, was uns jetzt beherrscht, die Welt ausbeutet und sich selbst hinrichtet wie ein Parasit, der seine Lebensgrundlage auffrisst. HIER und JETZT und ÜBERALL auf der Welt, nicht morgen und keine kleinen, wehleidigen Korrekturen, keine Klimakonferenzen mehr.

Aufwachen! Aufstehen! Wir können jeden Tag im Fernsehen zuschauen, dass und wie es funktioniert. 2011 ist ein Aufbruch-Jahr.

Die Ernte eines ganzen Jahres verschenken.

Wie klingt das? Utopisch? Hinterwäldlerisch? Nach einem einsamen, großzügigen Akt?

Vor ein paar Tagen war ich in einem Diavortrag der Seenomaden (siehe Artikel Zwei Weltenwanderer aus Wien). Sie waren vier Jahre in der Südsee unterwegs und zeigten vor allem Bilder von den sog. Hinterhöfen (soll heißen: von den Inselgruppen abseits des Mainstreams). Sie erzählten von der dort üblichen Schenk-Kultur. Auf vielen Inselgruppen gelte der Grundsatz: Nur Geschenktes ist etwas wert. Auf einer der Inselgruppen sei es sogar üblich, dass die Menschen das ganze Jahr über auf ihren Feldern arbeiten, die Ernte einbringen und anschließend zu 100% verschenken. Klingt paradiesisch, oder? Auch die Politik muss völlig im Gegensatz zu der stehen, die bei uns (soll heißen: in den sog. entwickelten Ländern) gemacht wird. Ein Beispiel: Auf einer dieser Inseln hat vor Jahren ein Sturm alles verwüstet und Neuseeland hat angeboten die Insel ein Jahr lang mit Reis zu versorgen. Die vier Häuptlinge der vier Dörfer haben dieses Angebot einvernehmlich und dankend abgelehnt. Begründung: Würden die Menschen wissen, dass sie regelmäßig mit Reis versorgt werden, würden sie ihre Felder nicht mehr bestellen, sich nicht mehr bemühen aus eigener Kraft das Überleben der Gemeinschaft zu sichern. Außerdem würde die Insel durch diese Reislieferungen ihre Unabhängigkeit verlieren, weil in der Schuld von Neuseeland stehen. Jetzt geht es den Bewohnern dieser Insel wieder gut. Sie haben die Krise aus eigener Kraft bewältigt. Die Tragik dabei: Diese Insel und viele andere Inseln werden als Folge der Klima-Erwärmung in absehbarer Zeit verschwinden. Einige können sich jetzt schon kaum mehr über Wasser halten. Ihre Bewohner haben die Zusage von Neuseeland, dass sie sich dort ansiedeln und arbeiten dürfen, die Gewissheit aufgesogen, eingeatmet zu werden vom entwickelten Teil der Welt. 

Erinnert an die Geschichte von Adam und Eva. Offenbar geschieht diese Geschichte in einem fort, bleibt die sog. Erkenntnis niemand erspart.

Richtigstellung: kein Wunder

Wenn Menschen, die das Glück haben in einem der wohlhabendsten Länder der Welt geboren zu sein, arbeiten zu können oder nicht einmal zu müssen, weil andere das für sie erledigen oder ein Geldpolster, ein Stück von diesem Glück in Form von persönlichem Einsatz oder Geld an Menschen abgeben, die dieses Glück entweder nicht haben oder nicht nutzen können (was nützt mir ein Auto, wenn ich keinen Schlüssel habe es zu starten, kein Benzin, nichts anderes damit zustande bringe als es in den Abgrund zu lenken?), wenn sich Menschen um Menschen kümmern, weil ihnen danach ist ihre Freizeit, ihre Zeit, ihr Leben nicht auf einen Akt der Selbstbefriedigung zu reduzieren, möglicherweise sogar ein intensives Bedürfnis damit befriedigen gebraucht, geliebt, geachtet zu werden, ein Zuhause suchen für ihre Liebe/Wärme … muss ich nicht von Wunder reden, ist dieser Begriff im letzten Artikel verfehlt, falsch. Ich muss vom Normalsten vom Normalen reden, das in einem der wohlhabensten Länder der Welt Mangelware ist, ein vom Aussterben bedrohtes Etwas wie selbstgemachte Marmelade, das mit Verdienstkreuzen und Ehrenpreisen in den Himmel gelobt wird, werden muss, als etwas Außerordentliches für Außerordentliche, will man den Rest, der zu ebener Erde abläuft, weiterhin als in Ordnung und Fortschritt bezeichnen.

10 Tage ist sie jetzt alt. Die Idee.

Es war am Abend, ich mitten in meinen Yogaübungen. (Um die Kirche im Dorf zu lassen: Es sind Übungen der allerersten Stufe, die ich mir verordnet habe, weil ich steif bin wie ein Holzpflock, ich würde Vorstufe zur Vorstufe zu dieser Stufe sagen, vergleichbar mit dem Kindergarten vor dem Vorschulkindergarten.) Da war sie. Die Idee: ein Buch über die Notschlafstelle von Cecily Corti schreiben. Sie hatte nicht einmal angeklopft. Dick und fett stand sie da. Bei einer komplizierteren Übung hätte ich mich vielleicht verheddert, so hielt ich inne, setzte mich auf die Matte.

Nach meinem VinziPort-Anlauf im November (siehe sechs Artikel im November und einen im Dezember 2010) hatte ich mit dem Thema Notschlafstellen abgeschlossen. Mit dem Thema Bücherschreiben, Schriftstellerei war ich dabei abzuschließen. Ich hatte vor mir in nächster Zeit das Flüchtlingsprojekt Ute Bock anzuschauen, die Dublin II - Verordnung hatte ich mir zusammen mit einem dicken Wälzer über “Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union” nach dem Vertrag von Lissabon schon gekauft, das dicke Fremdenrechtspaket lag schon fast zwei Jahre zwar nicht auf meinem Schreibtisch, aber doch halbwegs in Reichweite bei mir zuhause herum, zu lange schon, die letzten Novellen würde ich ergänzen müssen, mich wieder hineinknien in den Paragrafenwald als Vorübung für einen in absehbarer Zeit offenbar notwendigen Wiedereinstieg in meinen “alten” Beruf.

Nach dem Buch WU WEI Die Lebenskunst des Tao (Artikel Die Geborgenheit des Augenblicks) müsste ich diese Idee sofort umsetzen, dachte ich, auf der Matte sitzend, ich müsste diesem Impuls folgen, bevor ihn mein Verstand in mehr Wider als Für zerpflückt. Trotzdem. Noch einmal oder schon wieder “Notschlafstelle”?

Am nächsten Tag ein Mail an Cecily Corti, ein kurzer Blick auf die Website. Viel Neues ist im Werden, Spannendes, ungewohnt Ungewöhnliches. Ein Gespräch. Gestern habe ich die Website bis in den letzten Winkel durchforstet. Eindrucksvoll. Von wegen Notschlafstelle. “Ein großes Ding, über das ich da ein Buch schreiben soll”, habe ich auf einen Zettel neben dem Laptop geschmiert. Müsste ich schreiben “darf”? Ein kleines Wunder mitten in Wien.

2011 - Europäisches Jahr der Freiwilligentätigkeit

Was hat das Jahr 2010 als Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung gebracht?  In Österreich die Bedarfsorientierte Mindestsicherung  (siehe den Artikel Eine Woche noch. Dann ist Schluss). Nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Was sonst noch?

Auch 2011 soll ein zum Thema des Jahres passendes Gesetz gebastelt werden: ein Österreichisches Freiwilligengesetz. Mit ihm sollen verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, kann man auf der Website des BMASK lesen. Und wie auch letztes Jahr wird es viele zum Jahres-Thema passende Veranstaltungen geben. Und, auch wie letztes Jahr, findet die Eröffnung dieses Jahres erst anderthalb Monate nach seinem Beginn, Mitte Februar, in Salzburg statt. Wer sich näher informieren will: z.B. www.bmask.at.

Laut Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 27. 11. 2009 hat das Europäische Parlament 3 Mio. EUR für vorbereitende Maßnahmen und 8 Mio. EUR für das Jahr selbst als EU-Mittel genehmigt. 

Nicht ganz uninteressant vielleicht: Von 25. bis 27. Jänner präsentieren Österreichs Freiwilligenorganisationen ihre vielfältigen und unterschiedlichen Tätigkeitsfelder in der Volkshalle des Wiener Rathauses. Das Programm der einzelnen Tage abrufbar unter www.bmask.at

Heuer lassen wir als EU das Ehrenamt hochleben.  Gleichzeitig überlegen wir in Österreich aus Anlass der Abschaffung der Wehrpflicht, mit welcher monatlichen Geldsumme das in Diskussion stehende Freiwillige Sozialjahr abgegolten werden soll und mit welchen sonstigen Vergünstigungen man die jungen Leute locken könnte … Dabei ist Österreich im Bereich des freiwilligen Engagements im europäischen Vergleich gemeinsam mit den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich ganz vorne, kann man auf der Website des BMASK lesen. Während im EU-Durchschnitt nur rund 23 Prozent der EuropäerInnen ab 15 Jahren ehrenamtlich tätig seien, seien es in Österreich 43,8 Prozent.

Auf der Website der Notschlafstelle VinziRast kann man zum Thema Ehrenamt etwas Gutes lesen: “Unser aller Engagement ist ehrenamtlich. Ich nenne es lieber freiwillig. Denn die “Ehre”, die damit verbunden sein mag, erklärt nicht die Freude, die wir alle bei unserer Arbeit empfinden.”

Dieser Artikel ist geschmacklos. Das Salz fehlt ihm. Er ist wie diese “Jahre”.

Herzlich willkommen im Licht von 2011!

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“Mein” Spruch für dieses Jahr:

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht. Vaclav Havel

Kraft + Mut + Ausdauer + Liebe.

Diese vier Eigenschaften wünsche ich uns für das Jahr 2011. Ich glaube, wir werden sie brauchen. Und offene Augen.

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Damit wir die Herausforderungen erkennen UND auch ihre Schönheit wahrnehmen können.

Frohe Weihnachten!

“Ich demonstrierte die Unsterblichkeit und malte für die Menschen einen Regenbogen an die Wand der Zeit.  Was ich tat, werden alle Menschen tun.” JESUS (aus Das Wassermannevangelium)

Damals (soll heißen: vor 2010 Jahren) war es, wenn die Geschichte mit der Herbergsuche stimmt, nicht besser als heute. Kein Platz für (das) Fremde, nicht einmal ein Bett für eine Nacht für eine hochschwangere Frau. Ein Stall am Anfang des Regenbogens. An seinem Ende ein leeres Grab. Zum Glück lässt sich das Neue nicht abschrecken, aufhalten, aus- oder einsperren. Der Frühling ist erbarmungslos.

Trotzdem. Eine gute Sache. VinziPort.

Jetzt. Im Winter.

Wie wenig ausgereift das Ganze noch sein mag: Es ist da, jetzt, wo es am dringendsten gebraucht wird, es erfüllt seinen Zweck, sperrt Kälte und Erfrieren für 80 bis 100 Menschen jeden Abend, jede Nacht hinaus, nicht erst in ein paar Monaten, wenn alles fix und fertig und tiptop und der Winter vorbei ist.

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Bestimmt finden sich bald viele, viele Ehrenamtliche, die ihre sozialen Ambitionen in dieser Einrichtung mit viel Freude, Herz und Engagement ausleben, ihren Platz hier finden wie die Gäste, ein Zuhause für ihre Mitmenschlichkeit.

Alles, alles Gute! Aus ganzem Herzen!

Wer braucht eine Putzfrau?

In den letzten zwei Wochen sehe ich immer wieder eine kleine, junge Frau mit einem Stapel Augustin vor “meiner” Billa-Filiale stehen und frieren. Heute habe ich sie angesprochen und gefragt, ob sie sich bei mir aufwärmen und einen heißen Kaffee trinken will. Sie hat mein Angebot angenommen. Nach einer halben Stunde in der warmen Wohnung war ihr trotz Mantel (sie hat ihn nicht ausgezogen) immer noch kalt …

Sie kommt aus Rumänien, hat zwei Kinder (2 und 4 Jahre) und eine kranke Mutter. Vater gibt es wie üblich keinen. Sie sucht ganz, ganz dringend eine Möglichkeit Geld zu verdienen.

Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich in dieser Situation gedacht: Rumänin, ganz schlecht, für Rumänen (und Bulgaren) ist der Arbeitsmarkt auch nach dem Mai 2011 noch nicht offen, besser, sie geht gleich wieder zurück. Seit ich im Juni dieses Jahres in Bukarest ein paar Tage in einer Notschlafstelle mitgearbeitet und mit Betroffenen über die Lage dort gesprochen habe, denke ich nicht mehr so. Ich glaube nicht, dass diese Frau in Rumänien mit ihren Kindern und ihrer Mutter irgendwo anders als auf der Straße landen würde, es sei denn, sie gibt ihre Kinder ab und ihre Mutter, weil sie nie genug Geld verdienen könnte um vier Personen zu erhalten. Und das Leben auf der Straße ist in Rumänien wesentlich härter als in Österreich. Es dürfte nicht weniger hart sein als in Polen, wo vorgestern 6 oder 8 obdachlose Menschen und gestern 10 Menschen (ob obdachlos oder nicht, wurde nicht gesagt) erfrohren sind.

Also habe ich mir ein Weihnachtsgeschenk gemacht und ihr das ausständige Geld für die Miete in die Hand gedrückt. Job habe ich leider keinen für sie, aber vielleicht gibt es jemand, der ganz dringend jemand braucht, sucht oder der eine Wohnung hat, mit der er überhaupt nichts anzufangen weiß oder der sich auch ein Weihnachtsgeschenk machen möchte … In diesem Fall bitte ein Mail an hannah.seth@gmx.at . Ich weiß weder ihren Namen noch ihre Adresse, aber ich gehe öfter zum Billa.

Gestern habe ich gelesen, heute sei ein besonderer Tag und er hätte etwas mit Liebe zu tun.

Der vierte Abend. Oder: “Sie gehen schon?”

16:30 Uhr Bus nach Heiligenstadt, S45 bis Penzing, dann sieben bis zehn Minuten zu Fuß. Finster. Nieselig. In der Notschlafstelle brennt schon Licht. Ein Mann sieht mich durch die Glastür, öffnet, lacht mich freundlich an, keine Zähne im Mund, verschwindet Richtung Küche, wahrscheinlich Brote streichen. Ein anderer kommt. Der Obmann. “Nein”, sagt er, als ich in die Rezeption gehen will um meine Tasche abzustellen und meine Jacke auszuziehen, “Sie dürfen da drinnen heute nichts tun. Sie haben am Sonntag so viele Fehler gemacht, da ist das Nachbessern mehr Arbeit, als wenn man es gleich selber macht. Sebastian macht heute den Check-in. Aber (er ist großzügig) Sie dürfen da bleiben. Im Keller Bettzeug austeilen, in der Küche Brote streichen. Aber da drinnen und bei den Listen dürfen Sie nichts tun. Sie hatten noch keine Einschulung. Die andern, die hier arbeiten, hatten schon eine Einschulung.” “Und wann bitte bekomme ich diese Einschulung?” “Am 12. Dezember. Um 16 Uhr ist hier eine Besprechung. Danach dürfen Sie wieder. Vielleicht.” Sebastian kommt aus der Küche, geht in den Check-in, schaut mich an, zuckt die Schultern: “Ich muss das heute machen.” Ich: “Warum?” Er: “Ich weiß es nicht.” Ich: “Ich gehe.” Er: “Recht hast du.” Ich am Obmann vorbei bei der Tür hinaus. “Sie gehen schon?”

Kann es sein? Nein. Mit meinen Fragen zum Thema Brandschutz hat das Ganze sicher nichts zu tun (siehe die Artikel Der erste Schnupperabend., Der zweite Schnupperabend.). Ich bin einfach zu dumm. Und zu ignorant um die grandiose Chance, die man mir hier trotzdem noch bietet, aufzugreifen, die Hand, die sich immer noch zu mir nach unten streckt, zu nehmen. Immerhin dürfte ich Brote streichen und wenn ich gut genug wäre im Brotestreichen, dürfte ich vielleicht hoffen Betten reservieren zu dürfen (siehe den Artikel Der dritte (erste Dienst)Abend.) … 

Kann es sein, dass ich zornig bin? Nein. Meinen Job habe ich getan. Wenn der Brandschutz aufgerüstet wird, die Mitarbeiter eingeschult werden, die Problematik in den Gehirnen präsent ist, möglicherweise sogar bis zur Leitung des Hauses vordringt, habe ich den Gästen mehr geholfen als mit 365 Abend-Diensten pro Jahr.

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Wir behandeln den Tod wie einen Fremden.

In  dieser Beziehung stehen wir fast alle am äußersten rechten Rand.

Gäbe es eine Gaskammer …

Unvorstellbar, wäre es uns erlaubt

in unserer Dummheit zu verharren,

würde er uns bei unseren Sandkastenspielen nicht stören.

Die Welt wäre eine Wüste.

 

Der dritte (erste Dienst)Abend. Oder: Babylonische Verwirrung.

Halb sechs (17:30 Uhr). Vor der Haustür schon eine Gruppe Gäste. Also kein Gespräch mit Sebastian vorher, ob es vielleicht irgendetwas gibt, das ich wissen sollte, kein Durchsehen der Listen der letzten Tage, bei der Tür hinein, die Rezeption aufsperren, Anorak ausziehen und mit Kopfsprung in den Check-in.

Plusminus 90 Menschen kommen, stürmen, hatschen, humpeln, schleichen, stolzieren im Lauf der nächsten Stunden bei der Tür herein und nicht wenige von ihnen zeigen sich verwundert, einige verärgert, dass da plötzlich jemand ist, der keine ihrer Sprachen spricht und von ihnen verlangt, dass sie sich ihm verständlich machen. Einer, der ein bisschen deutsch spricht und mir äußerst ungut auffällt, weil er immer wieder versucht, einen Mann, der an diesem Tag noch Hausverbot hat, einzuschleusen, kommt sogar zu mir und sagt: “Weißt du, dass die Leute über dich lachen?” Nächstenliebe, wo bist du?

Sebastian ist ein Engel. Er ist so freundlich, so entgegenkommend, ich glaube, jeder Gast, jeder Ehrenamtliche hier schätzt ihn, er hilft, wo er kann, ist nie ungeduldig, immer bemüht, wenn er Zeit hat, sitzt er bei den Gästen, erklärt mir, wenn ich Zeit finde ihn zu fragen. Er erinnert mich an Albrecht (siehe z.B. die Artikel “Und dann fahren wir mit dem Dampfer…”, “Er scheißt sich an…”, Die erste Nacht draußen.). Wunderbar, wenn es hier auch so einen Menschen gibt. Ich fühle mich gleich viel wohler. Und wenn mir beim Check-in heute ein paar Fehler unterlaufen … Was macht das schon? Davon verbrennen keine Menschen. Im schlimmsten Fall schläft einer in einem falschen Bett. Außerdem mache ich es zum ersten Mal. Und ich bemühe mich.

Bei der Vergabe der “freien” Betten verstoße ich mit Sicherheit gegen hundert Regeln, die ich allerdings nicht kenne, weil jeder, mit dem ich bis jetzt zu tun hatte, zu diesem Punkt etwas anderes sagt. Dabei geht es um so diffizile Fragen wie: Ab wann ist ein Bett “frei”, soll heißen: Wie viele Tage muss es für einen Gast, der es belegt hat, freigehalten werden, wenn er nicht (mehr) kommt? Und wenn ein Bett frei ist, um welche Uhrzeit (zwischen 18 und 22 Uhr) darf es wieder vergeben werden? Und eine Frage beschäftigt mich an diesem Abend besonders: Muss ein Bett für einen Gast, der aus irgendeinem Grund drei Tage Hausverbot hat, freigehalten werden? Das kann nicht sein, denke ich, eine Notschlafstelle, in der Betten ohne triftigen Grund reserviert werden, ist keine Notschlafstelle und eine Regel, die besagt, dass für jemand, der das Haus wegen Alkohol, Drogen oder Gewalt (wenn auch nur für ein paar Tage) verlassen muss, das Bett warm gehalten werden muss, wäre absurd und im Winter, wenn der Bedarf nach Betten höher ist als das Angebot …  Also halte ich mich in diesem Fall an das, was der Hausleiter am ersten Abend zu mir gesagt hat (”Jeder Ehrenamtliche entscheidet, wie er das handhaben möchte. Wenn Sie Dienst haben, sind Sie der Herr hier. Sie entscheiden.”) und vergebe ganz bewusst ein derartiges Hausverbots-Bett. Dass der Obmann (der Vinzenzgemeinschaft, die Träger der Notschlafstelle VinziPort ist), der um 21 Uhr auftaucht, etwas anderes sagt als der Hausleiter, wundert mich nicht im Geringsten, sauer bin ich trotzdem, als er die Vergabe dieses Bettes zwar höflich, aber doch, beanstandet. Und als er mir erklärt, dass ich vor 22 Uhr überhaupt kein freies Bett vergeben darf (diese Version ist funkelnagelneu für mich, Sebastian hat den ganzen Abend lang von 21 Uhr gesprochen) und was ich nach 22 Uhr noch alles zu tun habe, bevor ich die freien Betten vergeben darf, weise ich ihn darauf hin, dass ich das Haus um dreiviertel zehn verlassen werde. Ich bin stinksauer.  

Um halb zehn kommt “der Nachtdienst”. Eine freundliche Frau. Ich versuche ihr einige Infos vom Abend weiterzugeben, aber es geht nicht, sie spricht nicht deutsch. Ich schmeiße das Geld (eine Übernachtung mit Essen und Duschen kostet 1 Euro) in die Kassa (hätte ich noch etwas wie eine Abrechnung machen sollen?), trage mich für den nächsten Dienst ein (warum eigentlich?) und gehe.

“Mein” Gast dieses Abends? Ist leider kein Gast geworden. Es war mein Fehler. Und es tut mir unendlich leid, dass ich mich bei ihm (warum nur???)  an die “drei-Tages-Regel” und an die “Uhrzeit-Regel” (Variante 21 Uhr) gehalten habe und ihm nicht sofort ein freies Bett gegeben habe. Ein junger Mann, hungrig, blaue Hände, kommt als einer der ersten bei der Tür herein, legt mir ungefragt sein gesamtes Vermögen (ein kleiner Haufen einzelne Cent) her, den Ausweis dazu, “ein Bett?” Das schmale Gesicht ein hoffnungsvolles Fragezeichen. Nein. Er muss warten. Ob er etwas essen darf? Natürlich. Er gräbt sich in die Brote ein, trinkt Tee. Dann kommt er wieder zu mir, “ein Bett?” Nein. Ich darf ihm noch kein Bett geben. Um 21 Uhr soll er wiederkommen (sage ich blödsinnig brav). Er nickt. Geht. Kommt nicht wieder (zumindest nicht bis dreiviertel zehn). Hat er mich nicht verstanden? Drei Betten wären (schon drei Tage) frei gewesen …

Novembrig.

Wenn man zum Leben ja sagt

und das Leben selber

sagt zu einem nein,

so muss man auch zu diesem Nein

ja sagen.

Christian Morgenstern